Beitrag 
Die große Kunstausstellung in Berlin. 1.
Seite
406
Einzelbild herunterladen
 

406

Die große Kunstausstellung in Berlin.

gezeichnet und tüchtig modellirt sind, die aber in keinem Punkte eine originelle Auffassung, eine gewisse Selbständigkeit des Künstlers verraten, welche die in die Ecke gezeichnete Signatur ihres Urhebers überflüssig macht. So trägt z. B. ein ganz geistreich und lebendig behandeltes Porträt einer jungen Dame von dem Fran­zosen Edouard Bertier, einem Schüler von Bouguereau und Cabanel, den allgemeinen Charakter der modernen französischen Schule: große Vornehmheit in der Jnszcnirnng und ein Streben nach bizarren Farbenverbindunge». Besondre Kennzeichen fehlen. Kanin dreißig Porträts bleiben übrig, die sich auf etwa zwanzig Maler so verteilen, daß man sie an ihrer Handschrift erkennt, mag dieselbe nun in gutem oder schlechtem Sinne charakteristisch sein. So ist A. von Werner z. B. kein Porträtmaler im höchsten Sinne des Wortes, weil seine Malweise ein summarisches Verfahren liebt, welches jeder feinren Jndivi- dualisirung im Wege steht und weil ihm die Kunst fehlt, in den Tiefen der Seele zu lesen und das Gelesene zu verwerten. Aber er hat sich doch einen malerischen Stil gebildet, welcher, mag er auch uicht besonders fein und reizvoll seiu, doch markant und charakteristisch ist. In dieselbe Kategorie der Bildnis­maler mit eignem Stil wir zitiren nach unsrer Ausstellung - - gehören ferner Gustav Nichter, Gussow, Knaus, Bokelmann, Biermann, Schrödl, Ernst Hildebrand nnd Keller. Richter hat schon eine so große Zahl roman­tischer, poetischer, eleganter oder doch wenigstens malerisch anziehender Bildnisse geschaffen, daß man von zweien, welche ausnahmsweise diese Vorzüge nicht be­sitzen, nicht viel Aufhebens zn machen braucht. Wenn man das ganze Werk von van Dyck oder von Frans Hals zusammenstellen würde, gäbe es auch genug Bilder auszumerzen, welche zum Ruhme dieser Meister nichts beitragen. Von den beiden Damenpvrträts von Gussow könnte man dasselbe gelten lassen, wenn man nicht zugleich die beunruhigende Beobachtung machte, daß der Künstler, der so originell begonnen hat, vielleicht infolge der vielen Aufträge Gefahr läuft, seine Originalität preiszugeben und sich in die flache Alltäglichkeit der Salonmalerei zu verlieren. Es ist zwar sehr schön und verdienstvoll, daß der tapfere Naturalist die Atlasrobe einer Balldame ebenso naturgetreu und täuschend zu malen versteht wie den groben Friesrock einer Bäuerin, daß er das runzliche Gesicht eines alten Mannes ebenso sorgsam und ebenso liebevoll wiedergiebt wie den zarten Teint einer jugendlichen Schönheit. Wenn aber das geistige Gepräge der Physiognomie der Roben- und Stoffmalerei so völlig geopfert wird, wie auf jenen beiden Bildnissen, so muß man bei Zeiten einen Warnungsruf erheben. Auch eine Studie in halber Figur, ein junges hübsches Mädchen, welches einen Teller mit Austern trägt, verrät eine bedenkliche Hinneigung zu jener porzellanartigen Modellirung des Fleisches, zu jener duftigen, malerischen Behandlung, wie sie Paul Thumann zur Freude aller ätherischen Pensionsmädchen kultivirt, die aber in der Natur nirgends ihr Vorbild haben. Der alte Gussow war mir, trotz seiner bisweilen struppigen Manieren, lieber als der neue mit seinem glänzenden