Überseeische Annexionspläne Frankreichs und Englands.
299
dazu kommen, sich über französische Ländergier zu beklagen; man sollte vielmehr meinen, was dem einen recht, sei dem andern billig.
Betrachten wir zunächst, was von seiten der Franzosen in Betreff Tonkins geschehen ist und weiter beabsichtigt wird, so ist nicht mehr zu zweifeln, daß man allen Ernstes an eine Eroberung dieses Landes oder doch an die Erzwingung eines Protektorats über dasselbe denkt, welches praktisch einer Besitznahme desselben ungefähr gleichkommen würde. Man hat den Schiffskapitän de Kergaradec zum außerordentlichen Gesandten am Hofe von Hue ernannt, und er soll beauftragt werden, dem Könige Tu Duk ein Ultimatum zu übergeben. Ferner werden die französischen Streitkräfte in Tonkin verstärkt werden. Doch wird vorläufig an eine Expedition in großem Maßstabe nicht gedacht. Am 24. April fand ein Kabinetsrat statt, der über die Angelegenheit Beschluß faßte. Nach diesem wird von den Kammern ein Kredit von fünf Millionen Franks zur Wahruug der Rechte Frankreichs in Tonkin verlangt werden, und zwei Transportschiffe sollen 1500 Mann nach diesem Lande bringen, sobald der Kredit bewilligt ist.
Mittlerweile hat der bereits dort befindliche Kommandant Riviere eiueu beträchtlichen Vorteil errungen, indem er sich der Festung Nam Din bemächtigt hat. Dieselbe ist die Hauptstadt eines der reichsten und fruchtbarsten Bezirke von Tonkin und liegt in einer weitgedehnten, von zahlreichen Kanälen durchschnittenen Ebene, die eine Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Seelen hat. Sie war ferner bisher der Mittelpunkt aller den französischen Interessen besonders feindlichen Elemente des Landes, der cmnamitischen und der Mandarinenpartei. Ihre Bedeutung wurde dadurch anerkannt, daß FraneMs Garnier sie während der Expedition von 1873 besetzte, und daß dies als eines der wichtigsten Ereignisse jenes Feldzugs bezeichnet wurde. Aber Nam Din ist auch aus rein strategischeu Gründen ein höchst wünschenswerter Besitz. Die Hauptstadt Tonkins läßt sich auf andern Wegen erreichen, unter denen der am häufigsten benutzte der Songtschikannl und der Arm des Kuakamflusfes ist, an dessen Mündung der jetzt mit einer französischen Besatzung versehene Hafen von Haifong liegt. Nam Din aber beherrscht den Hauptarm des Bode oder des Roten Stromes, und wenn sich Riviere seiner nicht bemächtigt hätte, so würde er jeden Augenblick einem gefährlichen Angriffe von seiten der Banden ausgesetzt gewesen sein, welche die südliche Hälfte von Tonkin mit einer Besetzung bedrohten. Man hofft jetzt franzosischerseits, Riviere werde in südlicher Richtung vorgehen und sich beeilen, Nin Bin, die wichtigste Stadt des Bezirks gleichen Namens, wegzunehmen, die als der Schlüssel von Tonkin auf der Seite von Annam betrachtet wird. Nin Bin ist die südlichste Provinz des Landes, und da es auf der Südseite von waldbedeckten Gebirgen eingeschlossen ist. so kann man sich ihm von Kochinchina nur auf einer Straße am Meere nähern, die von seiner Hauptstadt beherrscht wird, welche am untersten Arme des Roten Flusses liegte. Sobald