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pompejmiische Sxaziergänge.
allen Lieblingsneiguugen der Vergangenheit zu brechen glaubte. Auf diese Malereien fielen die ersten Blicke des Kindes; es bewunderte sie, noch ehe es sie verstand. Sie prägten sich seinem Gedächtnis ein und mischten sich mit jenen Jugendeindrücken, die man nie vergißt. Die Kirchenväter haben also recht mit ihrer Bemerkung, daß das, was damals der Mythologie so viele Anhänger gewann, der Umstand sei, daß sie sich des Menschen schon in der Wiege, ja fast schon vor seiner Geburt bemächtigte. So sagt z. B. Tertnllian ebenso kernig als wahr: 0irme8 iÄololatrig. odststrios ug-soiinur, d. h. die Vielgötterei ist schon bei der Geburt unser aller Hebamme.
Was aber war der Charakter dieser Mythologie? Auf welche Weise und in was für Abenteuern wurden diese Götter und diese Heroen ihren Anbetern in der Regel dargestellt? Helbigs Katalog giebt auch hierauf die lehrreichste Antwort. Er zeigt uns, daß es Liebesgeschichten sind, denen diese Maler vor allen andern den Vorzug gaben. Jupiter erscheint bei ihneu nur mit der Verführung der Danae, Jo oder Leda und mit der Entführung der Europa beschäftigt. Die Verfolgung der Dciphnc durch Apollo ist der Gegenstand von zwölf Gemälden; Venus ist fünfzehnmal in den Armen des Mars und sechzehnmal mit dem schönen Adonis dargestellt. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Gottheiten, in allen diesen Wandgemälden handelt es sich fast nur um ihre Liebeshändel. Dies also wars, was eine elegante und leichtlebige Welt aus dem alten, ernsten Götterglauben gemacht hatte. Großen Widerstand freilich hatte derselbe nicht geleistet. Eine Hauptkraft dieser alten Religionen, welche keine heiligen Bücher besaßen und durch keine festen Dogmen gebunden waren, lag in ihrer leichten Anbequemung an die Meinungen und Geschmacksrichtungen jeder Epoche. Jahrhunderte lang hat die Religion Griechenlands jeder dieser Richtungen genügt, und nur deshalb hat sie so lange Bestand gehabt. Von Homer bis zu den Nenplatonikern hat sie es verstanden, alle Formen anzunehmen: bald ernst, bald leichtfertig spielend, aber immer poetisch, diente sie den Künstlern zum Ausdruck ihrer mannichfachsten Vorstellungen, ihrer widersprechendsten Empfindungen, gestattete sie den Philosophen die Einkleidung ihrer tiefsten Lehren in glänzende Farben. Zu der Zeit, welche uns hier beschäftigt, paßte sie sich mit ihrer gewöhnlichen Fruchtbarkeit und Geschmeidigkeit den Neigungen einer die Ruhe und den Genuß liebenden, reichen, glücklichen Gesellschaft an, welche — dank einer gefürchteten Obergewalt — sich des folgenden Tages sicher, von den ernsten Sorgen der Politik sich befreit fühlte und nur die eine Sorge kannte, wie sie das Leben so heiter als möglich hinbrächte, einer Gesellschaft, die sich darin gefiel, unter dem Bilde ihrer Götter sich selbst darzustellen und ihre eignen Vergnügungen zu idealifiren, indem sie dieselben den Bewohnern des Olymps zuschrieb. So gewinnen die Wandgemälde von Pompeji einen neuen Reiz für uns, wenn wir daran denken, daß sie das Abbild einer bestimmten Zeit und uns zu deren Verständnis behilflich sind.