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Die deutsche und die französische Volksdichtung.
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Die deutsche und die französische Volksdichtung. 689

Woher dieser Abgrund, welcher sich unleugbar zwischen der Kunst- und Volkspoesie in Frankreich zeigt, woher diese befremdende Erscheinung, daß das Volk nicht teilnimmt an den Meisterwerken seiner Kunstdichter, und die ge­bildeten Kreise weit davon entfernt sind, die literarischen Schätze des Volkes zu ahnen und zu begreifen?

Dieser Riß wurde vorbereitet im sechzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der Renaissance, also gerade in einer Zeit, welche für die Volksliteratur eine Blüte­zeit genannt werden darf. Die leuchtenden Vorbilder, welche Griechenland und Rom der gebildeten Welt jener Tage entgegentrugen, nahmen dieselbe in so hohem Maße gesungen, daß sie die heimische Poesie zu vergessen begann und in der überkommenen fremden aufging. Thut doch der Herold dieser neuen Richtung Du Bellay iu seiner IllustiÄtion äs 1a lanssus trancMs die heimische Dichtkunst mit den Worten ab:Gieb diese alten französischen Dichtungen, Balladen, Lieder und andre Tändeleien (st autrss teils« Spiesriös) auf, welche den Geschmack an unsrer Sprache verderben und keinen andern Zweck haben als Zeugnis von unsrer Unwissenheit abzulegen," während das Haupt der sogenannten Plejade, Ronsard, welcher den französischen Parnaß in nie wiedergesehener Weise be­herrschte, im Grunde doch volkstümlich blieb. So eingenommen er auch von den Vorzügen der Antike gegenüber der heimischen Dichtnng sein mochte, er ver­suchte doch das heimische Element mit dem antiken zu verschmelzen. Erst das siebzehnte Jahrhundert löste sich vollständig von dem volkstümlichen Boden los. ging einseitig in der Antike auf, wie dieses am schlagendsten der ^,rt xostiaue des Boileau und besonders jene Stelle beweist, in welcher der Gesetzgeber des Parnaß als den ersten, welcher

äs,us ess sisolsg ^rossisrs OsdromUs, I'^rt «onkus äs iwuZ visux romÄneisrs,

Villon preist und damit die an nationalen Erinnerungen reiche Literatur der vergangnen Jahrhunderte souveräu in den Bann thut. Die Poesie, welche so auf das Altertum gepfropft erblüte, an Feinheit und Rundung hatte sie wohl gewonnen, an Saft und Ursprünglichkeit aber verloren.

So blieben die Verhältnisse das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch, und ausdrücklich bezeugt Villemain, daß Laharpe die Kreise der Hauptstadt wohl für die Kunstdichtung zu begeistern wußte, mit vornehmer Verachtung dagegen auf jene Studien herabsah, welche sich mit dem Volke beschäftigten. Erst mit dem Eintritt der Revolution, welche unter den Klängen der Marseillaise ihren Einzug hielt, begann auch in der Dichtung neues Leben zu Pulsiren. Einen Augenblick schien es, als wenn die Revolution, welche von der Provinz ausging, auch den Keim zu einer mehr volkstümlichen Dichtung erwecken sollte. Aber unglücklicherweise, wenigstens für die Poesie, konzentrirte sich die Revolution in Paris und führte zum Kaiserreich, und unter dem eisernen Szepter, welches

Grcnzboteu I. 1883. 87