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politische Briefe.
mutet. Man war daher überrascht, daß der Fürst nach Wiederübernahme der Geschäfte nicht den Kulturkampf mit neuem Eifer aufnahm. Die Notwendigkeit fiel indeß weg zunächst infolge des Personenwechsels auf dem heiligen Stuhle. Der Fürst hatte bei diesem Kampfe Hindernisse und Unterlassungen gefunden, auf die er vielleicht gefaßt gewesen war, aber auf die er nicht gerechnet hatte. Immer hatte er von der Möglichkeit eines friedliebenden Papstes und der von selbst dann sich ergebenden Einstellung des Kampfes gesprochen. Leo XHI. gab seit seiner Thronbesteigung alsbald wenigstens die äußern Zeichen einer einlenkenden und friedlichen Gesinnung. Der Friede ist nicht erreicht worden, und ob er zu erreichen ist, bleibt nach wie vor ungewiß. Aber das Feuer des Kulturkampfes hat an Intensität beträchtlich verloren; es ist die Frage, wem die Schwächung dieser Glut zu Gute kommt, ob der ultramontanen Führung oder dem deutschen Reiche. Der Kulturkampf ist sozusagen in ein chronisches Stadinm getreten; es fragt sich sehr, ob der Ultramontanismus die Rückführung in das akute Stadium zu bewirken in der Lage ist. Einen unverkennbaren Nachteil hat aber die Schwächung dieses Gegensatzes dem Staate gebracht. Sie hat eine Reaktion im Bunde mit dem Ultramontanismus in den Gesichtskreis der öffentlichen Meinung gerückt, und die Unvorsichtigkeit der konservativen Partei, die einen solchen Bund als Ziel aufs innigste zu wünschen hinstellt, hat der Bcfürchtuug eines solchen die weiteste Ausbreitung gegeben. Dadurch sieht sich der Fürst vielfach gehemmt und iu seinen Absichten verkannt.
Dies ist das Ergebnis eines arbeitsvollen Lustrnms: eine Frucht, sonst nur Ansätze, die gehemmt, aber nicht zurückgewiesen sind. Wer daraus ciueu Vorwurf herleiten will, der hat keine Ahnung, daß der innere Bau des deutschen Reiches das dankbarste, aber auch das schwerste Werk ist, dessen Gelingen uns zur stärksten Nation erheben, dessen Mißlingen uns aus der Reihe der Nationen ausscheiden lassen wird.