Zwei Molivre-Biographie».
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Streiche eines Sccipin den moralischen Maßstab an dieselben anzulegen vergaßen.
Die Einwürfe Rousseaus gegen ernstere Dichtungen Moliöres, wie den „Geizigen" und den „Misanthropen," gehen von einem so falschen Standpunkte und einer so einseitig verkehrten Auffassung der dramatischen Dichtung aus, daß es heutzutage nnuöthig ist, sie zu widerlegen. Wenn je ein Bühnendichter sittlich reinigend gewirkt hat, so ist es Molisre gewesen. Mit Recht läßt er allerdings jede den Eindruck des reinen Kunstwerkes störende moralische Tendenz zurücktreten; nur indem er getreu nach dem Lebeu zeichnet und so seiner Zeit den Spiegel vorhält, übt er seine Wirkung aus. So kämpfte er gegen alles Falsche, Unwahre, Gemachte; bei allen Ständen und in allen Gestalten verfolgt er es mit unerbittlicher Consequenz und Strenge, in dein beschränkten Philister des Bürgerstandes wie in dem aufgeblasenen adlichen Gecken, in dem gelehrten Pedanten wie in dem meineidigen hochgeborenen None, in dem frommen Heuchler, in dem unwissenden und hochmüthigen Charlatan, in der affcetirten und empfindsamen Frau, überall giebt er es mit der vollen Kraft seiner Komik dem Gelächter preis. So lernen wir aus seineu Stücken die französische Gesellschaft der damaligen Zeit in ihrer ganzen Mannichfaltigkeit genau kennen, und das Studium andrer Quellen bestätigt uns die getreue Schärfe und, im besten Sinne des Wortes, realistische Wahrheit seiner Zeichnung. Selbst in der uns als die allerschlimmste Caricatur anmuthenden, unsterblich lächerlich gemachten Charla- tanerie der damaligen Aerzte, wie sie dem deutschen Publicum zum mindesten aus dem „Eingebildeten Kranken" erinnerlich sein wird, giebt uns Moliöre nur ein genaues Abbild der Wirklichkeit. Dabei sind seine Figuren — und darin zeigt er sich als genialer Dichter von wahrhaft dramatischer Begabung —, obwohl sie typischer Natur und als solche von allgemeiner Bedeutung sind, doch zugleich von so ausgeprägter Individualität, von so fast porträtähnlicher Charakteristik, daß man sich nicht wundern darf, wenn seine Zeitgenossen sich nach den Originalen umsahen und sie auch vielfach gefunden zu haben glaubten. Daß Moliöre sich in den dadurch getroffenen Kreisen viele Feindschaften zuziehen mußte, ist begreiflich genug; die literarischen Streitigkeiten, die sich an verschieone seiner Stücke anschließen, hängen damit zusammen.
Gleich die?röoiöus68 riclivulss riefen eine ganze Reihe von Schriften über wahres und falsches Preeiösenthum hervor. Man hatte dasselbe zwar schon früher öfter angegriffen, aber nie mit diesem allgemeinen Erfolg und einer so durchschlagenden, die Opposition herausfordernden Wirkung. Moliöre hat in diesem einaetigen Stücke jene im gesellschaftlichen Leben wie in der Literatur iu gewissen Kreisen sich breit machende zierliche Manier verspottet, die, ein paar Dccennien zuvor in berechtigter Reaetion gegen eingerisseue Verwilderung entstanden, zuletzt iu die widerlichste Unnatur ausgeartet war. War man doch schließlich dahin gelangt, das Essen nicht mehr für wohlanständig in Gesellschaft Grenzbvwl IV. 1831. 64