Die letzten Reichstagsreden des Kanzlers.
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gegenüber dem Kaiser und dem Reiche folgend, vorschlügt, findet sich bald eine große Mehrheit von Abgeordneten zusammen. Dann schreit man, wenn der Kanzler uach seiner besten Ueberzeugung Vorlagen macht, über Kcmzlerdictatur, Absolutismus, Reaction und andre Gespenster, die sich da einstellen, wo der Sinn für das Wirkliche und Thatsächliche mangelt. Die liberalen oder genauer die freihändlerischen Fraetionen wollen nicht, daß der Reichskanzler ihnen Gesetzentwürfe nach seiner Ueberzeugung zur Annahme oder Ablehnnng unterbreitet, sie verlange», daß er, diese Ueberzeugung opfernd, sich als Diener den Fraetionen zur Verfügung stelle, und da er dies bisher nicht gethan hat, so haben sie ihn, von den Cvnservativen bis zu den extremsten Liberalen, mit allen Kräften und Mitteln, die ihnen zur Hand waren, angefeindet und verleumdet. Der Kanzler hat jede Fraktion bekämpfen müssen, weil jede die kaiserliche sowohl wie die königlich preußische Regierung sich unterordnen, ihren Anschauungen und Zwecken dienstbar machen wollte. Die Couservativcn haben (bei dem Schulaufsichtsgesetz) damit augefangen. Mit dem Centrum gerieth der Kanzler dnrch die historische Entwicklung in einen Conflict, der sofort aufgehört haben würde, wenn jener sich bereit erklärt hätte, der Fraetiou zu Willen zu sein. Auf seiten der Na- tivnalliberalen fand er wesentliche Unterstützung, bis die Herren glaubten, mm sei es genug, von jetzt an müsse die Regierung sie unterstützen. Nicht der Kanzler hat die nationalliberale Fraetion zuerst angegriffen und in ihrem Bau zu zerstören versucht, sondern jene hat ihm das Bündniß gekündigt und ihn erst dilatorisch, dann kühl, darauf abwehrend und zuletzt feindselig behandelt. Vor allen war es der Abgeordnete Lasker, der die Beziehungen des Kanzlers zu den Nationallibcraleu durch die Tragweite und den Ton seiner Opposition untergrub. Er und die Nationälzeitung haben die Partei zersetzt und aufgelöst. Sie werdeu in der parlamentarischen Geschichte einst als die Todtengrüber der Nationalliberalen siguriren. Dieser Flügel der letztern war es, der nach 1877 der Regierung im preußischen Landtage die natürlichsten, nachher mit Leichtigkeit bewilligten Diuge abschlug, lediglich um auf den Kanzler einen Druck zu üben. Wenn dieser mit den Fraetionen gekämpft hat, so geschah es immer in Vertretung des Reiches gegen jene, des nationalen Patriotismus gegen den durch Fractionsrücksichteu beschränkten und geschwächten Patriotismus.
Auch wenn die letzten Wahlen, wie behauptet wurde, wirklich eine liberale Majorität zu Tage gefördert hätten, würde der Kanzler an seiner Ueberzeugung festhalten nnd, so lange er auf seinem Posten bliebe, der Volksvertretung des Reiches dieselben Vorlagen zugehen lassen, die der Kaiser in seiner Botschaft angekündigt und befürwortet hat. Das Ergebniß der Wahlen ist aber überschätzt worden. Es bedeutete keine Verurtheilung der wirthschaftlichen nnd socialen Vorlagen durch die „Nation," mit welchem Ausdrucke die liberalen Redner die ihnen in ihrem Wahlkreise zugefallene Stimmenmehrheit zn bezeichnen belieben. In der Wahl eines Ccntrumsmitgliedes, eines Cvnservativen, eines Freiconser-