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Die sociale Frage im Roman.
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Die sociale Frage im Roman.

ic Literatur- und Kulturgeschichte setzt bekanntlich für verflossene Jahrhunderte viel kritisches Bemühen ein, die frühesten Spuren großer Zeitbewegungen und Anschauungswandlungen in poetischen Werken nachzuweisen und zieht oft zu weitgehende Folgerungen aus ihren Entdeckungen. Die Tageskritik ist selten in der Lage, die ersten Rückwirkungen bestimmter Tendenzen und Kämpfe auf die belletristische Literatur im Gewirr so vieler Erscheinungen wahrzunehmen, und wenn wahr­zunehmen, eonsequent zu verfolgen. Und doch liegt es in der Natur der Poesie, daß namentlich die Veränderung der Anschauungen, das tropfenweise Eindringen neuer Elemente in die allgemeinen Ueberzeugungen am ehesten in der Poesie und für unsre Zeit in Roman und Novelle, die ja zum Vehikel für alles dienen, zu Tage treten müssen. Wir haben hierbei nicht die eigentliche grobe Tendcnz- literatur im Auge, welche bewußtermaßen eine verzerrte und auf ganz andre Dinge als auf literarische Wirkung berechnete Lebensdarstellnng unternimmt. Diese Literatur mag dereinst ein historisches Interesse habe», ein ästhetisches sür die Gegenwart hat sie gewiß nicht. Seit diesociale Frage" bei uns in Deutschland breit iu den Vordergrund des nationalen Daseins getreten ist, seit die socialistische Presse im Zusammenhange mit der socialdemokratischen Agitation eine Ausbreitung gewonnen hat, von der nur traumselige Philister, nicht ge­sunde Beobachter der Dinge überrascht und bestürzt wurden, hat auch eine so­cialistische Belletristik in Vvlksroman und Schauspiel existirt. Die Feuilletons der Parteizeitungen haben zu den Leitartikeln derselbenpoetische" Illustrationen geliefert. Daß diese gestimmte Belletristik soviel uns davon zu Gesicht ge­kommen leider wirkungsvoller als werthvoll war, daß sich in ihr eine un­sägliche Rohheit und Bildungslosigteit, die scheinheiligste Brüderlichkeit neben der uuverhülltesten Lüderlichkeit spreizten, daß die Fratze in der Charakteristik und die triviale Phrase im Dialog herrschten, rechtfertigt es vollkommen, daß die Tageskritik, soweit sie einen künstlerischen Standpunkt einnimmt und künst­lerische Maßstäbe anlegt, keine Notiz von ihr genommen hat. Die Zeitungen, welche sich sonst gegen das Recht der Poesie sträuben und die gesammte Lite­ratur der Gegenwart nur als Annex zur politischen Bewegung ansehen, hätten schon eher Anlaß gehabt, sich um den Wiederschein der neuen Tendenzen in den rohen und flüchtigen Producten der socialdemokratischen Nvvellistik zu be­kümmern.

Seit einiger Zeit läßt sich eine neue Erscheinung beobachten. Diesociale Frage" wird von ernsteren und vor allem von ernster zu nehmenden, weil talent-