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Dramatische Novellen.
Die Novelle also in der Schule des Dramas! Wir geben Lindner von vornherein darin Recht, daß jede stärkere Betonung eines künstlerischen Moments, jede bewußtere Compvsitionsweise unsrer zum Theil sehr zuchtlosen und verlotterten Erzählnngsliteratur zu Gute komme» kann. Wir wollen auch bei Seite setzen, daß für die höchsten Anforderungen doch jene Stilunterschiede, welche aus der Natur der echt novellistischen und echt dramatischen Stoffe hervorgehen, untilgbar und unverwischbar sind und sein müssen, und wollen davon absehen, daß die reflectirte Absichtlichkcit oft einen Reiz uud Duft verwischt, welcher vollendeten Erzählungen eigen sein muß. Wir stellen uns mit dem Verfasser auf gleichen Boden und sagen mit ihm: „Es kcmu der Novelle unter keinen Umständen schaden^ wenn sie von der dramatischen Kunst das nothwendige vom zufälligen sondern lernt." Die novellistische Handlung kann durch Coneentration, durch festere Verknüpfung der einzelnen Momente, durch eine energische Steigerung bis zum Schluß in zahlreichen Fällen gewiß nur gewinnen, und wir brauchen auch nicht allzn ängstlich zu untersuchen, ob die Erfindung des Dichters überall die Grenzen der epischen Kunst einhält, ob bei dem raschen, ungestüm vorwärts drängenden Gange nicht manche Blüte uugepflückt bleibt, welche der behaglicher seines Weges schlendernde Erzähler uns darbieten würde.
Aber — wie anders, wie wesentlich anders ist das dramatische und das theatralische Element in der Novelle! Kaun man zugeben, daß jede poetisch darstellenswerthe Handlung einen Kern enthält, dem eine dramatische Zuspitzung zu Theil werden kann, ist es sicher das Recht des hierfür besonders begabten Dichters, auf die Steigerung und jene schlagkräftige Charakteristik besondres Gewicht zu legen, die man dramatisch nennt, so hat es doch seine großen Bedenken, die conventionellen Gruppirnngen und Seencnfvlgen des realen Theaters in die erzählende Dichtung herüberzunehmeu. Es läßt sich darüber streiten, wie weit selbst der dramatische Dichter sich diesen Herkömmlichkeiten zu fügen hat uud wie oft er bei denselben etwas von der wahrhaft poetischen Wirkung, dem innern Leben seiner Erfindung und seiner Gestalten opfert. Die Gewalt der Coulissen, der unerläßlichen großen Auftritte und der theatralischen Abgänge mag für das Schauspiel eine Menge von innern UnWahrscheinlichkeiten, allzugewagten Voraussetzungeu und allzuscharf oder allzupathetisch ausgedrückte» Augenblickswallungen rechtfertigen. Die Untersuchung, wie weit alle diese Dinge in einem Schauspiel unerläßlich sind, wie weit sie von der echten menschendarstellenden Kraft und der gereiften Kunst eines Dichters überwunden werden können, gehört nicht hierher, obwohl sie interessant genug wäre und angesichts der Gedankenlosigkeit, mit welcher die armseligsten Zufälligkeiten des Coulissen- wcseus uud die Bequemlichkeiten der Darsteller zu „dramatischen Gesetzen" gestempelt werden, sich täglich nothwendiger macht. Hier haben wir es nur mit der Frage zu thuu, ob diese Dinge in der Novelle berechtigt, ja auch nur erträglich sind. Diese Frage aber glauben wir entschieden verneinen zu müssen.