Skizzen ans unserm heutigen Volksleben,
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hatten," Dennoch blieb es eine traurige Thatsache, daß Menschen auf diese Weise ans den Schutthaufen kommen. Und dazu behauptete der Mensch, bitteres Unrecht erlitten zu hnbeu — von ihm, dein wohlmeinenden und rechtlich denkenden Manne! —
Selbigen Tages fragte Kcithchen bei Tisch: „Aber, Papa, was hast du denn? Du siehst ja ganz bitterböse aus." „Kind, ich habe mich geärgert."
„Ach, Papa, ich dachte, dn brauchtest dich nicht mehr zu ärgern, seitdem du die Schreibärmel ausgezogen hast."
„Das dachte ich auch, Kind, aber wer kann sich gegen die Niedertracht der Gesinnung verwahren?" So und so sei es ihm gegangen, nnd es folgte der ausführliche Bericht. „Was sagst du dazu?"
„Der arme Mann!"
„Was? Du bedauerst den Kerl noch?"
„Papa, der Mann kann von seinem Standpunkte ans kaum anders urtheilen." „Aber dieser Standpunkt ist völlig unberechtigt."
„Mag sein, aber wie soll er das wissen? Papa, du mußt dich des Mannes annehmen. Ich finde, wir haben die Verpflichtung dazu."
Das wollte Schaufuß nun absolut uicht zugeben. In Anbetracht dessen jedoch, daß er die Schreibärmel ausgezogen und das kaufmännische Interesse nicht mehr zu vertreten habe, uud dn es Käthcheu wünschte, der nun einmal eine Bitte nicht abzuschlagen war, gab er nach und ließ sich Engen Brand nach einigen Tagen kommen. Der trat denn auch wohlgcmuth nu, ließ sich auf dem besten Lehnstnhle nieder und blinzelte erwartungsvoll mit den Augen.
„Brand, ich will annehmen," sagte Schaufuß, „daß Sie neulich etwas aufgeregt waren. Ich muß Ihnen jetzt in aller Ruhe sagen, daß Sie völlig im Unrechte sind. Es ist nöthig, Ihnen das klar zu macheu, damit Sie Ihre Lage begreifen uud nicht gänzlich verlumpen." Nun folgte eine kunstgerechte Auseinandersetzung über die rechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, daß die Freiheit des Verkehrs zwischen diesen Fcictvrcu in keiner Weise beschränkt oder versichert werden dürfe, daß jeder für sich selbst die Verantwortung trage, daß man die Diuge gehen und sich selbst regeln lassen müsse, nnd daß einzig nnd allein Angebot nnd Nachfrage die Preise bcstimmcu dürfe.
Mit diesen Gründen hatten nun freilich die Leitartikel seiner Zeitung oft genng Bismcirck und die ganze Schutzzöllncrschaft siegreich abgethan, aber auf Branden machten sie gar keinen Eindruck. Der saß auf seinein Stuhle uud bliuzclte weiter.
„Was sagen Sie dazu, Brand? sprechen Sie sich nur aus."
„Weun Sie es hören wollen - eine Regelung, wo der eine zum Millionär nnd der andre zum Krüppel wird, kann mir nicht passen."
„Aber Sie können doch nicht verlangen, hundert Thaler täglich eiuzunehmeu. Augebot und Nachfrage —"
„Wissen Sie was, Herr Schanfnß, wenn ich Sclavenhändler wäre, dann würde ich mit der Moral von Angebot und Nachfrage wunderschön auskommen."
Dabei blieb es. Die schönsten Gründe, die zwingendsten Schlußfolgerungen prallten an der brutalen Thatsache ab, daß Brand ein Krüppel war und hungern mußte.
„Uud vergessen Sie nicht," fügte Schaufuß endlich hinzu, „daß Sie eiu Christ siud, uud daß Ihre Religion Ihnen christliche Geduld gebietet."
Da stand Brand auf und wollte, ohne ein Wort zu sagen, weggehen.
„Wo wollen Sie denn hin, Brand?" Greuzboten III. 1881. IS