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Literatur.
daß ihm im Bewußtsein der Nation noch nicht die angemcssne Stellung so unerschütterlich gesichert ist wie seinen Vorgängern und größten Rivalen. Wahrhaft große Männer sind jederzeit weit mehr als das, was die speeielle Benennung ihrer Zuuft, ihrer Kunst, ihrer Wissenschaft oder ihres Thntenkreises aussagt; wer würde glauben, Schiller oder Goethe gerecht geworden zu sein, wenn er nur im Bereiche der Dichtkunst uud daneben etwa auf den andern von ihnen bearbeiteten Gebieten ihnen Verdienst und geschichtliche Stellung zuerkannt hätte? Vielmehr bilden, die Genien der Nationen eine eng zusammenhängende Kette fortlciteuder Culturtrüger, in dercu gesammtcr geistig-sittlicher Persönlichkeit sich die Ideale des Menschenthums individuell verdichtet und allseitig ausgewirkt haben, gleichviel welche Form des Schaffens im einzelnen die vorwiegende gewesen. Es will nns scheinen, als walte immer noch die Meinung vor, daß in diesem Sinne Goethe der letzte Dichter gewesen, welcher im ersten Range iu die Reihe deutscher Geistcshclden anf- znnehmen sei, während die nnchgekominnen Dichter immer nur als Dichter gewürdigt zu werden Pflegen. Vor andern dürfte nnter diesen spätern es Rückert verdienen, aus dein Gesichtspnukte allgemeiner Erhöhung uud Vertiefung nnsrcr geistig-sittlichen Cultnr betrachtet zn werden. Daß unter diesem Gesichtspunkte daS Gocthische Lebens- ldeal und der Goethische Geistestypus den letzten Abschluß gewähren, oder daß man Ergänzungen dazu uur etwa iu Schiller oder in Luther, also uach der Vergangenheit hin, aber nicht nach unsrer Gegenwart zn aufzusuchen habe, wird jetzt kaum mehr der begeistertste und einseitigste Goethiauer oder Classieist festhalten. Zwei Seiten des idealmenschlichen Lebens treten offenbar bei Goethe iu der geistigen Darstellung, künstlerischen Ausprägung und zum Theil auch iu seiner Lebensführung zurück hinter andern, für die er seinerseits vorwiegend berufen war. Diese zwei Seiten sind die patriotische und die religiöse. Wir sehen nach Goethe diese beiden Seiten zugleich iu der Romantik sich empordrängen und ihren entsprechenden Rang nachdrücklich zurückfordern, aber es hängt sich diesem Streben sogleich eine verengende und repristinireudc Tendenz nu. Von beiden Mängeln ist Rückerts Muse frei zu spreche», während ihr die volle Eiusenkung idealer Poesie in das nationale Wollen ebenso gelingt, wie die volle Erhebung der freien dichterischen Schöpferkraft in den Aether eines geläuterten, ethischen, gcmüthvvllen Gvttesglaubens. Es war die Philosophie, dnrch welche Rückert diesen höheru Aufschwung seines Geistes von dem Rück- fall in alte Fesseln fcruzuhalteu verstand, uud so wnrde er der Sänger eines freisinnigen christlichen, mit berechtigten pautheistischeu Momenten verschmolzuen Theismus. Muß man unter den grvßen Philosophen bei Fichte den Geistestypns Schillers — in Rücksicht ans dnS Vorherrschen des freicu, mächtigen Thatwillens —, bei dem jugendlichen Schelling denjenigen Goethes wiederfinden, natürlich mit den nöthigen Abzügen und Zuthaten, so zeigt sich iu Rückert das Poetische Gegenbild zu dein philosophischen Theismus der nachhegclischen Zeit: er ist der Dichter Krauses, WeißeS, etwa mich des spätern Schelling.
Dies alles bringt oben geuauutes Büchlein auf die einfachste und anspruchsloseste Weise zur Ueberzeugung: dnrch ein nußerordeutlich geschickt uud fein gearbeitetes, wie ein schönes Ganze sich darstellendes, wohlgeordnetes Gewebe treffend ausgewählter Quelleucitate, dnrch welche uns die überleitende und auslegende Haud des Verfassers fast uumerklich belehrend hiudurchftthrt. Wir empfehlen das Buch aufs wärmste. N. S.
Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Hering in Leipzig. — Druck von Carl Mnr.,unrt iu Rendnip-Lcipzig.