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Archäologische Novellen.
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gangenheit versenkt, die ihm bewegter, mächtiger, reizvoller erscheint, kann er wahr­haft poetische Resultate aus derselben gewinnen, kann sich aber ebensowohl daran gewöhnen, ihre Äußerlichkeiten, ihre zufälligsten Vorgänge und ihr Costüm ohne weitres für poetisch zu halten. Wie nahe ist nicht Lingg dieser Gefahr schon in seinem großen epischen GedichtDie Völkerwandrung" gekommen! Auf wie vielen Seiten, denen nur ein und das andre kühne Bild ein tiefres Interesse leiht, wird das großangelegte Gedicht zu einer Reimchrouik! Ueber wie viele öde und unbelebte Partien der Erzählung, des historischen Referats müssen die klangvollen, stolz dahinrauschcnden Oetaven hinweghelfen! Und doch hegte und weckte der Dichter an seinem großen Stoffe ein tiefres und wärmeres Interesse, der Zweifel, ob nicht anch uns eine Völkerwandrung, eine Nacht und Barbarei bevorstehe,in der bis auf den letzten bleichen Funken die alte Freiheit und Cultur versunken," beseelt ihn nnd wirkt in den mächtigsten und lebendigsten Partien des Gedichts eine ahnungsvolle und elegische Stimmung, ein Gefühl der Theilnahme im Leser. Aber wie schon gegen den Schluß hin dem Dichter die Kraft dieser Belebung des spröden, weitschichtigen, in keine einheitliche Com- position zu zwingenden Stoffes versagte, wie sich Lingg auf Wirkungen zu ver­lassen begann, welche die Vorgänge der Völkerwandrung wohl in einer bestimmten poetischen Auffassung, aber nicht an sich haben konnten, so gewöhnte sich der Antor mehr und mehr daran, den Ueberlieferungen aus den ersten mittelalter­lichen Jahrhunderten eine poetische Bedeutung an sich zuzutrauen, EtwaS ähn­liches mag ihm bei denByzantinischen Novellen" vorgeschwebt haben. Wir wollen nicht von vornherein in Abrede stellen, daß Erzählungen aus Byzauz, so fern und fremd und in gewissem Sinne selbst widrig uns diese ganze ost­römische Welt ist, zu poetischer Wirkung erhoben werden könnten. Aber dann müßte der Dichter an Empfindungen und Erlebnisse anknüpfen, die uns ver­traut und verständlich sind, müßte an die Stelle der historischen Wahrheit seiner Erzählungen die künstlerische Wahrscheinlichkeit setzen, welche ihr Gesetz immer nur aus unsrer Cultur, unsrer Kunst, nicht aber aus einer vergangnen Knust empfängt. Statt dessen erzählt Lingg die Byzantinischen Geschichten in einein völlig archaistischen Stil, er ahmt in gewissen Theilen seiner Erzählung die byzantinischen Historiker nach und giebt die Begebenheiten mit der eigenthümlichen Kälte und Glcichgiltigkeit jener Schriftsteller wieder, denen das besondre Schick­sal im allgemeinen Schicksal des Reichs und des Volks untergegangen ist. Wenn es irgend die Aufgabe lebendiger Poesie sein könnte, den Ton einer vergangnen Kunst zu treffen, so wäre das ein hohes Lob; in Wahrheit ist es ein Tadel. Aus jeder einzelnen dieser Erzählungen spricht an irgend einer Stelle der Phantasie- volle Dichter, den wir in Lingg ehren, aus dem Ganzen des Buches aber der gefährliche Zug der gegeuwärtigen Literatur, sich viel lieber ans das Seltsame, Abenteuerliche und Bunte des Stoffes als auf die innre Theilnahme des Dichters und der Leser zu verlassen.