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Das deutsche Lied seit Robert Schumann,
an denen die Literatur ziemlich arm ist, wenn auch die ältere weniger als die heutige.
Zwei der schönsten Lieder, die in unsrer Zeit geschaffen wurden, sind der „Asm" und „Es blinkt der Thau," beide allbekannt und beide von Anton Rubinstein, Nubiustein besitzt ein Naturgenie, das sich intensiv und elektrisch äußert, das plötzliches Aufflammen liebt und mit einem einzigen starke» Strahl ins Weite hellt und blendet. Ihm sind die spontanen Einfälle eigen, welche wie frisches Bergwasser mitten ans Stemm hervorsprudeln. Wer könnte ohne ursprüngliches Musikgenie auf so etwas Frappantes, ja Elementares gerathen wie z. B. jeucn Einsatz der Contrabässe in seinem (üs-änr-Clavierevncert? Rubinstein, dem Pianisten, sagt man nach, daß er in der Fülle der Inspiration manchmal fehlgreife. Als Componist thut er das noch häufiger; aber aus Mangel an Inspiration. Dieser Umstand macht auch seine Lieder sehr ungleich im Werth. Immer den richtigen Moment abpassend, würde gerade Rubinstein im Liede lauter Cabinctstücke haben geben können. Oft tändelt er ganz allerliebst und bringt dann am Schluß noch einen zündenden Gedanken. So in der Nummer „Wie eine Lerch' in blauer Luft" an der Stelle: „und nur im Menschen der Verstand hält mich noch fest." Oft bringt er aber auch nichts. Das beruht darauf, daß der Erfindung die Frische zeitweilig bei dem rastlosen Manne ausgeht, Sorglosigkeit ist Rubinstein nicht vorzuwerfen. Hiergegen spricht die Anlage seiner Lieder, die überall Bedacht und Ueberlegung zeigt. Er hat einzelne Gedichte, die durch Mendelssohn in musikalischen Curs gekommen sind, besser, wahrer als dieser eompvnirt. Man vergleiche Rubinsteius Komposition von Heines Tragödie „Entflieh mit mir zc." mit der des frühern Meisters. Da ist die Situation viel natürlicher und zugleich ein größrer Reichthum an poetischen Details. Wie schön, wenn der Liebhaber, nachdem die Ungeduld ausgetobt, dem Mädchen noch einmal zuruft: „Entflieh mit mir" — es ist, als sähe man sie schon auf dem Heimwege. Das gleiche gilt vom „Frühlingsblick," bei dem er die Seele in dem Momente, wo Eindrücke und Gefühle eben erst heranziehen, vor uns ausbreitet. Er liebt es iu seinen Liedern, da, wo Gelegenheit ist, von den Helden der Dichtung uns nicht bloß zu referiren, sondern zu zeigen, wie sie im Gemüthe ringen uud arbeiten. Das giebt oft in den Liedern ein paar Tacte mehr, aber auch eine viel größre Unmittelbarkeit. So ifts in „Clärchens Lied", so in dem Geibelschen Gedichte „Klinge, mein Pandcro" dem oftcomponirten, das namentlich in der Lassenschen Version — unter dem Titel „Die Musikantin" — viel gesungen wird.
Am günstigsten scheinen für Rubinstein die Stoffe, die die Phantasie oder die Leidenschaft etwas in Wallung bringen. Man sehe darauf hin den „Sturm" an (Nr. 4 in Opus 78) oder die elfte Nummer in demselben Hefte, wo sich zwei Raben von dem erschlagnen Helden erzählen und seiner treulosen Gattin — ein wild phantastisches Stück. Claviermcilcrei scheint Rubinstein nicht zu liebcu.