Politische Briefe.
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Welche Mittel giebt es, die natürlichen Gegner des Entwurfs umzustimmen oder — nnschädlich zu machen? Den Zaghaften kann man nicht anders Muth einflößen als durch das Beispiel; diese Gegner zn gewinnen, muß man zuvor die energischen Gegner gewonnen haben. Der Widerstand des Partieularismus in dieser Frage wird wohl nur durch die Regierungen selbst zu brechen sein. Den Regierunge» wird zu Gemüthe geführt werden müssen, nnd hoffentlich wird diese Vorstellung Eingang finden, daß sie die Wurzel ihres eignen Bestandes untergraben, weun sie das Reich, nachdem sie es zugelassen, aus übel angebrachter Sorge um die partienlaristischcn Existenzen an der Erfüllung derjenigen Aufgaben hindern wollen, welche nur das Reich iu die Hand nehmen kann und welche für den Fortbestand der Natiou unumgänglich sind. Wenn die Regierungen vom Bundesrathstisch aus einmüthig und nachdrücklich für die Vorlage eintreten, wird der Widerstand des Partieularismus im Reichstag wohl sich geben. Mit der Widerstandskraft der Großindustrie hat es nicht zu viel ans sich, was keiner Darlegung bedarf. Die wirksamen Gegner der Vorlage sind die Freihändler. Ihre Einwände sind zweifacher Art. Dieselben richten sich gegen das Gefährliche der Vorlage und gegen das Vergebliche. Anscheinend ist dies ein Widerspruch, der sich aber so ausglicht, daß der Grundgedanke des Entwurfs für gefährlich erklärt wird, weil er zu immer weiter sich verzweigenden Experimenten bedenklicher Art zu führen geeignet sei, daß man aber die Einzelbcstimmnngen des gegenwärtigen Entwurfs für solche erklärt, deren praktische Undurchführbarkcit sich sehr bald zeigen müsse.
Die individualistische Wirthschaftötheorie, deren Charakter darin besteht, die menschheitliche Wirthschaft aus der individuellen Initiative allein aufzubauen mit der Schränke, daß die individnelle Freiheit sich niemals principiell beschränken darf; und zweitens darin, daß der Wirthschaftszweck für den höchsten Zweck der Menschheit überhaupt erklärt wird, der zu Gunsten andrer sittlicher Zwecke womöglich garnicht oder nur im geringsten Maße beschränkt werden darf — diese Theorie also hat zwar neuerdings überraschend schnell au Einfluß uud Geltung bei uns verloren. Viele bekennen sich zum Schutzzoll oder erklären, in der Wirthschaftspolitik sich nicht von allgemeinen Sätzen, sondern von der Erfahrung leiten zu lassen u. s. w. Nichtsdestoweniger ist damit nur die prineipielle Unterwerfung unter die individualistische Wirthschaftstheorie aufgegeben, im ganzen und großen wird die Anschauung volkswirthschaftlicher Dinge nach wie vor durch diese Theorie beherrscht. Und wie könnte es auch anders sein? Eine folgerichtige, keineswegs bloß auf einem wissenschaftlichen Schnlgcbäude, soudcru auf einer langen soeialen Entwicklung beruhende Theorie wird nicht an einem Tage gestürzt und ist nicht schon damit gestürzt, daß sie aufgehört hat, für ein unanfechtbares Dogma zu gelten. Erst wenn eine Reihe entgegenstehender Thatsachen