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Lessingstudien.
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Lcssingstiidien.

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gerichtetes, und von einem solchen wendeten wir nns mit Unwillen und Abscheu hinweg. Diese Abweichung, so interessant sie ist, berührt jedoch den Hauptpunkt gar nicht, Schiller schließt vielmehr in völliger Uebereinstimmung mit Lcssiug nud Aristoteles:Der tragische Dichter giebt also mit Recht den gemischten Charakteren den Vorzug, und das Ideal seines Helden liegt in gleicher Ent­fernung zwischen dem ganz Verwerflichen und dem Vollkommenen." Hier liegt nicht bloß das Resultat des Aristoteles, hier liegt auch bis auf einen unwesent­lichen Pnnkt seine Beweisführung vor. Von tragischer Schuld aber ist noch weniger die Rede als bei diesem. Alles was man daher gegen den griechischen Philosophen und gegen Lessing in diesem Pnnttc vorgebracht hat. müßte natur­gemäß auch auf Schiller fallen. Ist jenen nirgends die leiseste Spur von der Einsicht iu die Nothwendigkeit der ursächlichen Verbindung von Schuld und Katastrophe aufgegangen, wie kaun man füglich annehmen, daß dieser sie be­sessen hat? Konnten jene bei ihrer Definition der Tragödie als einer mitleids- wnrdigen Handlung sich nicht zu dem Gedanken der sittlichen Versöhnung, die im Untergang des Schuldigen liegt, erhebe», wie ist es zu erklären, daß dieser gerade in der Offenbarnng der sittlichen Weltordnung die reinste Höhe tragischer Rührung sah?

Gewiß, man ist etwas zu voreilig gewesen, über Lessing nnd seinen großen Lehrer in diesen Fragen den Stab zn brechen. Ich will die Worte nicht wiederholen, noch ans Lessing selbst anwenden, welche dieser einst vou der Poetik des Aristoteles brauchte (Dramaturgie, 100. Stück): daß er sie für ebenso un­fehlbar halte als die Elemente des Euklid, daß sich die Tragödie vou der Richt­schnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen könne, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu cntfcrueu. Weuu aber selbst der Pmiegyriker Lessings Adolf Stahr meinte, die Aesthetik unsrer Tage könne mit Recht darauf hin­weisen, daß für sie die Zeit der Autoritäten vorüber sei nnd daß die ganze aristotelische Debatte uur »och eiu philologisches uud geschichtliches Interesse h«be. so dürfte es an der Zeit sein, solche Ansprüche einmal ans ihr richtiges Maß znrückzufiihrcu nnd vor jener Selbstüberhebung zu warnen, die sich so- gern in der Vergangenheit bespiegelt:

Zu schauen, wie vvr uns ein weiser Mann gedacht: Und wie wirö dann zulcht so herrlich weit gebracht.