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Goethe und Gustchen Stolberg.
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Goethe und Gustcheil Stolberg.

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Goethe nicht von vorn herein geahnt haben sollte, wer ihm gegenüberstand. Die ersten acht Briefe vom Januar bis zum September 1775 sind übrigens theils vou Frankfurt, theils von Offenbach aus, wo Goethe damals Lilis wegen viel verkehrte, geschrieben; eine längere Pause bildet die Schweizerreise im Mai, Juni und Juli, die er unternahm, um zu versuchen, ob er sich den Banden Lilis werde entreißen können. Der neunte Brief führt uns nach Weimar; er ist am 8. October in Frankfurt abgebrochen, am 22. November in Weimar wieder aufgenommeil. Die übrigen neun gehören den ersten Weimarer Jahren an und vertheilen sich auf die Zeit vom Februar 1776 bis zum März 1782.

Die Briefe aus Frankfurt und Offenbach gehöreil zu dem schönsten und zugleich seltsamsten, was wir von Goethischen Jugendbriefen haben; zu dem schönstell denn es sind Stellen darin', wie sie nur der Dichter schreibt, Stellen, die geradezu Poesie sind, obwohl sie weder Reim noch Versmaß haben; zu dem seltsamsteil den all die leidenschaftliche Erregung und Ungeduld, das Abgerissene und Sprunghafte in Goethes damaligen Briefen tritt uns hier ill fieberhafter Weise gesteigert entgegen; der Stil dieser Briefe läßt sich mit Worten kanm beschreiben. Er setzt sich hin, nimmt die Feder und scheint eine lebhafte Unterhaltung eröffnen zu wollen. Nachdem er drei, vier Zeilen aufs Papier geworfen, legt er die Feder weg, verabschiedet sich und geht. Er kommt zu dem angefangnen Blatte zurücknach Tische", am Abend, in der Nacht, am nächsten Tage, nach acht Tagen, läßt es wieder liegen und nimmt es wieder vor. Dabei eine beklommene Unruhe des Ausdruckes die kurzen Sätzchen, die Aus­rufezeichen und Gedankenstriche versetzen einem bald den Athem. Wie oft kehren solche Wendungen wieder, wie:Ich kann nicht weiter schreiben" oderWas soll ich Ihnen sagen, da ich Ihnen meinen gegenwärtigen Zustand nicht ganz sagen kann" oderWarum sag ich Dir nicht alles Beste Geduld Geduld hab mit mir!" oderWas sag ich! o beste wie wollen wir Ausdrücke finden für das was wir fühlen!" oderDürft ich, könnt ich alles sagen!" Und er weiß, daß er so schreibt. Gleich im ersten Briefe entschuldigt er vor der theuern Un­genanntendiesen zerstückten, stammelnden Ausdruck", im zweiten spottet er selbst, daß er ihr im vorigeneinige dumpfe tiefe Gefühle vorgestolpert" habe.

Zum guten Theil ist diese Unruhe die Folge der Herzensbedrängniß, welche dem Dichter vom December 1774 bis in den October 1775 sein Verhältniß zu Lili Mse Schönemann) bereitete, dessen Verlauf in den Briefen an Gustchen sich verhältnißmäßig am deutlichsten abspiegelt, so, daß sie für die Geschichte dieser schmerzlichsüßen Liebe neben Goethes eigner Darstellung in den letzten Büchern vonDichtung und Wahrheit" eine wichtige Quelle bilden. Wir haben vor kurzem erst in diesen Blättern, veranlaßt durch das damals neu erschienene Bnch des Grafen von Dürckheim:Lilli's Bild geschichtlich entworfen" (Nörd-