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holt, so ist auch das Abderitenthum zu allen Zeiten und an allen Orten wesentlich dasselbe geblieben; nur die Personen und die Scenen haben gewechselt. Aber die Geschichte verfährt bisweilen gar neckisch: es scheint, als ob es ihr von Zeit zu Zeit gefalle, selbst die ursprüngliche Scene wieder herzustellen, so überraschend ist die Aehulichkeit zwischen dem Abdera im alten Thrazien mid diesem oder jenem Abdera in irgend einem Staate der Gegenwart, und so auffallend gleichartig der Sinn und die Handlungsweise der damaligen und der heutigen Abderiten.
Das alte Abdera lag bekanntlich am Ausflusse des Nestos in das ägeische Meer. Es war also keine Seestadt, sondern eine Flußstadt unweit des Meeres. Die Abderiten sprachen aber von ihrer Stadt nie anders als von einer Seestadt. In öffentlichen Urkunden war nur von der Seestadt Abdera die Rede. Sogar gewisse Rechtsgrundsätze in Bezug auf Handel und Schifffnhrt wurden abgeleitet aus der Fiction, daß die Flußstadt Abdera eine Seestadt sei.
Abdera betrieb nämlich Handel und Schifffahrt in ausgedehntem Maße. Eine einzige Coucurrenzstadt, das mächtige an der macedonischen Küste gelegene Olynthvs ausgenommen, überflügelte es alle andern Handelsstädte und Niederlassungen am ägeischen Meere, wie auch alle diejenigen, welche die Wellen des Hellespont, des Bosporus und des Pontus Euxinus bespülten. Abdera war einer der Hauptstapelplätze des griechischen Handels und ein Hauptmitglied des großen Bundes, der das Reich nach dem mit den Persern siegreich geführten Kriegen umfaßte. Abdera war, so zu sagen, eine Hansestadt.
Als solche hatte sie sich nun gewisser Freiheiten zu erfreueu. Alle Pro- ducte des Ackerbaues und der Viehzucht, der Kunst und des Gewerbes durften in Abdera zollfrei eingeführt und von dort wieder zollfrei verschifft werden. Abdera war also ein Freihafen, und die Abderiten waren Freihändler.
Aber nicht nur eine freie See- und Handelsstadt war Abdera, sondern auch ein Freistaat; deun es hatte eine eigene Verfassung, und um die Stadt herum lageu Gärten und Weinberge, Aecker und Wiesen, und im Umkreise von einer Meile sogar einige Dörfer, und alle diese Ländermassen gehörten mit zu Abdera.
Es ist alles schon einmal dagewesen. Hesiod und der tiefsinnige Rabbi haben recht. Wenn unser kurzsichtiges Geschlecht die Weltidee der „freien Con- currenz" zuerst in den systematischen Lehrbüchern englischer und französischer Schriftsteller am Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckt haben will, so beweist es eben damit nur seine Kurzsichtigkeit. Oder wenn einige englische Agitatoren sich eingebildet haben, den internationalen Freihandel zuerst allen Völkern als ein sie reich und glücklich machendes Wundermittel empfohlen zu haben, so irren auch sie. Selbst das Manchesterthum spukte schon in den Köpfen der