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Lessing und Goethe.
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einen moralischen Zweck. Nach Goethe hat sie einen rein ästhetischen ob sich nebenbei auch noch eine moralische Folge ergiebt, liegt von Anfang an gar nicht in seiner Absicht; tritt sie ein, so ist es gut, tritt sie nicht ein, so ist das kein Vorwurf für den Dichter, der eine andere Aufgabe hat, die selbst dann keine moralische wäre, wenn die Lessing-Winckelmannsche Ansicht, die Aufgabe der Kunst sei Darstellung der Schönheit, richtig wäre, von Biedermann selbst hat in seinem Aufsatze sehr schönMiß Sara Sampson" undStella" in Parallele gesetzt. Ihr Gegensatz beruht recht eigentlich auf dem Unterschiede der Auf­fassung der Poesie als eines Mittels moralischer Belehrung und ästhetischer Wir­kung. Ging doch Goethe ursprünglich in der rein ästhetischen Durchführung seines dramatischen Problems so weit, daß die Lösung in schroffen Gegensatz zu unsrer moralischer Auffassung derselben tritt. Dieser Gegensatz macht auch Lessings Urtheil überWerthers Leiden" verständlich und natürlich. Erscheint doch in dieser Dichtung der Selbstmord aus übertriebener Empfindsamkeit wie gerechtfertigt, ja wie glorificiert (was ja auch die Folgen des Buches bestätigt haben). Da verlangt denn der moralische Dichternoch ein Capitelchen am Schlüsse! Und je eynischer, desto besser", damit nur ja nichtdie poetische Schönheit für eine moralische" genommen werden möchte. Dem ästhetischen Dichter liegt eine solche Möglichkeit so fern, daß er über die thatsächlich nach dieser Richtung hiu eingetretenen, auf dieser seinen Zeitgenossen noch geläufigen Ver­wechslung beruhenden Folgen selbst erschrickt. Lessing erkannte diesen Unter­schied sehr deutlich; seine Welt fühlte er untergehen, eine neue, ihm fremde heraufsteigen, die Arbeit, die er gethan hatte, schien ihm nach dieser Richtung hin eine Verlorne. Und das hätte ihn nicht erbittern sollen? sollte uns heute seiue Erbitterung nicht hinlänglich begreiflich erscheinen lassen, ohne daß wir eine Anzweiflung seines Charakters zu Hilse rufen müßten? Daß sich Goethe im Verhältniß zu Schiller ganz anders benahm, ist selbstverständlich. Goethe war auch durch Schillers Auftreten, das eine Gattung von Poesie aufs neue zur Herrschaft zu bringen drohte, die er selbst glücklich überwunden hatte, von dem jüngern Dichter abgestoßen. Wenn er ihm aber spätermit rückhaltloser Freundlichkeit" entgegenkam, so geschah das nichtdem Bittenden" gegenüber, sondern dem Manne, der durch ernste Arbeit sich zu der reinen Auffassung der Poesie durchgekämpft hatte, die der ältere Dichter schon srüher errungen hatte; sie erkannten sich als Bundesgenossen, als Vertheidiger desselben Postens. Das ist bei Goethe Lessing gegenüber nie der Fall gewesen und konnte es Nichtsein, weil Goethes Auftreten trotz Regellosigkeit dem Wesen nach ein Schritt vor­wärts, ein Schritt über Lessing hinaus war; sie konnten sich auf diesem Gebiete nicht als Verbündete erkennen, sie mußten sich ausschließen, wie es auch Goethe Lessing gegenüber gethan hat und mit Recht gethan hat, wenn er sein Urtheil