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daran verzweifelt zu werden brauchen, doch noch eine Lösung zu finden. Wir werden versuchen, in einem letzten Aufsatze dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Lessing und Goethe.
Das in Nummer 21 dieses Jahrgangs der „Grenzbvten" besprochene „Goethe- Jahrbuch" enthalt einen damals als besonders anregend hervorgehobenen Aufsatz des Freiherrn von Biedermann über „Goethe und Lessing", der den Lesern vor allem zum Studium empfohlen wurde. Da uns die aufmerksame Lectüre desselben zu einem andern Resultate der Beurtheilung geführt hat, als das in der angeführten Besprechung gegebene, so sei es gestattet, die Hauptpunkte unsrer Ansicht kurz darzulegen. Handelt es sich doch um die uns Deutschen besonders theure Gestalt Lessings, und zwar nicht nur um seine Beurtheilung als Schriftsteller und Kritiker, sondern wesentlich um die als Mensch nnd Charakter.*)
Biedermann stellt in seiner Abhandlung die Urtheile gegenüber, welche Goethe über Lessing und Lessiug über Goethe gefällt hat, uud sucht nachzuweisen, daß die Leidenschaftlichkeit Lessings in seinem Verhalten gegen Goethe in „einer Leidenschaftlichkeit erregenden Ursache" zu suchen sei uud zwar iu Lessings „Neid gegen den jungen Menschen, der spielend ihn des Ruhms, der erste Bühnenschriftsteller der Deutschen zu sein, zu berauben im Begriffe stand." Der Verfasser scheint das Empfindliche dieser Anklage selbst zu fühlen uud betont daher besonders, daß er nicht „auf die ohnedies ja ganz unmögliche Herabdrückung von Leffings Bedeutuug" hinarbeite. Soll sich dies auf Lessiugs geistige Bedeutung beziehen, so hat er damit allerdings sehr recht. Denn wenn wir auch zugeben, daß Lessings schöpferische Dichterbegabung nach der Seite des unbewußt schaffeuden Antheils des Gemüths hin eine geringe gewesen ist, so möchte doch schon die weitere Behauptung, Lessing sei nicht genügend empfänglich für dichterische Schönheiten gewesen, eine eigenthümliche Beleuchtung durch die Freiheit und Sicherheit des Urtheils gewinnen, mit welcher Lessing im Gegensatze zu der herrschenden Meinung feiner Zeitgenossen z. B. auf Sophokles uud Shakespeare hinwies, mit welcher er, wie es erst neuerdings Muncker
Wir haben den vorstehenden Artikel sehr gern zum Abdruck gebracht, wenn er auch die durch den Biedermcinnschen Aufsatz angeregten Zweifel uns ebenso wenig ganz zn beseitigen scheint, wie die Anzeige des Goethejahrbnchs in der ersten Nummer des neuen Weidmaunschcn Literaturblattcs, welche den ganzen Gegensatz zwischen Lessing und dem jnugcn Goethe auf das „gut handeln" und das „andächtig schwärmen" zurückführen will.
D. Red.