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Aus Karl Woermanns Kunst- und Naturskizzen : 1. Der Haag. Haarlem. Amsterdam.
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kürlich zu wiederholen, was der überzeugende Meister der Kritik ihm vorge­sprochen hat. Ich will mich daher auch darauf beschränken, über drei Bilder einige eigne Worte zu sagen.

Das erste dieser Bilder ist RembrandtsAnatomie." Bekanntlich stellt es den gelehrten Professor Tulp dar, wie er im Anatomiesnal seinen erwachsenen, bärtigen Schülern am todten Körper die Anatomie des Armes demonstriert; und bekanntlich sind die Figuren lebensgroß und ebenso lebenswahr, wie der Leich­nam todeswahr ist und wie das Helldunkel das wirkliche Helldunkel eines solchen Raumes ist. Das Bild ist auf demselben Boden gewachsen, wie dieSchützen- und Regentenstücke." Es war, wie alle diese, als Erinnerung an eine bestimmte Anzahl zu einem bestimmten Zwecke vereinigter Männer für deren Corporations- saal gemalt. Und dennoch ist es für Künstler und Kunstfreunde Gegenstand der Verehrung geworden, wie RafaelsSchule von Athen" in Rom. Hätte man Rafael erzählt, hundert Jahre nach ihm werde in Holland ein Mann erstehen, der werde den Leichnam eines Unbekannten malen und einen Professor, der den­selben seciere, und eine Anzahl von Aerzten, welche zuhören, und das Bild werde ebenso berühmt werden wie seine Schule von Athen, ich glaube, Rafael würde die Achseln dazu gezuckt haben. Aber es ist doch so gekommen, und wir fragen uns nun, wie es möglich war. Burger würde antworten: Weil der geistige Gehalt hier wie dort derselbe ist, weil beide Bilder dieWissenschaft" darstellen; und ich würde hinzufügen: Weil Rembrandt diesen geistigen Inhalt ebenso überzeugend in der Formen- und Farbensprache seiner Zeit und seiner Heimat ausgesprochen hat, wie Rafael im Geiste seines Volkes und seines Jahr­hunderts. Wir stehen hier noch einmal vor einer neuen Kunstoffenbarung; und die Loosung dieser Kunstoffenbarung lautet:Greift nur hinein ins volte Men­schenleben! Wo ihr es packt, da ist's interessant"; und die Erfahrung lehrt, daß, was ein Genius gepackt hat, uns alle tief und ernst und geistig packt.

Das zweite Bild des Haager Museums, über welches ich ein Wort sagen möchte, ist Paul Potters berühmter lebensgroßer junger Stier. Im vorigen Jahrhundert verachtet, hat er den Glanzpunkt seines Ruhmes in der ersten Hälfte des jetzigen Jahrhunderts genossen. Heute ist die Sonne seines Ruhmes wieder im Untergehen. Theophile Gautier schalt ihn gar schon ein ausgestopftes Thier. Daran glaube ich freilich nicht. Aber ob es ihm so gehen würde wie Mem gemalten Pferde des Apelles, dem die lebendigen Pferde zuwieherten, oder wie jener in Erz gegossenen Kuh des Myron, die ein Löwe zerreißen wollte und die der Meister selbst mit den lebendigen Thieren seiner Herde verwechselte, das ist eine andere Frage; und dennoch muß ich vor Potters Stier immer an diese alten Geschichten denken, und ich glaube, daß Potter sie gekannt hat und ihnen absichtlich hat nacheifern wollen. In seinem Streben nach plastischer

Grenzboten IV. 1880. 30