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einer mangelhaften Entwicklung rnhig alle Schädigungen hinnehmen werde, welche eine festbestimmte greifbare Klasse von Menschen ihm zufügen will, als es unverständig wäre, von diesen Menschen zu verlangen, daß sie die Schädigung des Staates uuterlassen sollen aus Rücksicht auf sein Unvermögen, sich durch die ordentlichen Mittel des Gesetzes dagegen zu schützen. Die innere Structur eines jeden Staates ist nothwendig einem gewissen durchschnittlichen Charakter seiner Bewohner angepaßt. Wenn durch eiue gewaltsame Umwälzung plötzlich fünf Millionen Spanier in Deutschland oder fünf Millionen Engländer in der Türkei einheimisch würden, so würde die Gesetzgebung in beiden Ländern leicht ins Schwanken kommen und von dem gewöhnlichen Wege abzuweichen sich genöthigt sehen. Ist die fremde Einwanderuug stark genug, um deu Volkscharakter des Lcmdes zu ändern, so werden sich die Gesetze dieser Aenderung anschließen; ist sie nicht so stark, so wird sie den Staat zu Ausnahmemaßregeln nöthigen. Das jüdische Volk ist so durchaus anders geartet als die große Masse der russischen Uuterthaneu, daß es uicht Wunder nehmen kann, wenn die Staatsregierung zu so auffälligeu Auskunftsmittelu ihre Zuflucht uimmt, wie das obige ist. In einem besser geordneten Staatswesen hätte man wahrscheinlich mit minder zweischneidigen Waffen sich zn vertheidigen vermocht; in Rußland wußte man sich nicht anders zu helfen als durch die Berufung an die staatliche Willkür.
Die russische Negierung befindet sich offenbar in einer mißlichen Lage. Ganz Europa hat noch jüngst in Berlin von Rumänien die Emancipation seiner Juden heftig gefordert, ehe es Rumäuien die staatliche Mündigkeit zuerkennen wollte. Ich glaube allerdings, daß Rumänien besser als Europa weiß, welche gewaltige Aufgabe uud welche Gefahr es auf sich nehmen wird durch die Gewährung voller Gleichberechtigung an seine jüdischen Einwohner. Aber Rumänien wird sich fügen müssen auf die Gefahr hin, große wirthschaftliche und nationale Erschütterungen zu erleben. Das daraus entspringende Unheil wäre für das fordernde Europa kein sehr großes. Rußland jedoch wird man schwerlich dazu bewegen, eine solche Gefahr selbst in kleinerem Maßstabe auf sich zu nehmen; diesen Entschluß könnte Rußland nur aus freiem Willen, aus einer sehr liberalen und sehr doctrinären Strömung seines Staatslebens etwa fassen. Eine durchgreifende Lösung der Frage N aber nur hier in Rußland möglich, wo der Hauptsitz des Judenthums sich befindet.
Wollte man in Rußland das Judenthum gewaltsam niederdrücken, so würde man damit nur einen oft unternommenen Versuch wiederholen, dessen Vergeblichkeit eben so oft in der Geschichte nachgewiesen wurde. Wollte man den Weg der jüdisch-liberalen Doktrin betreten, so ist anzunehmen, daß in nicht allzulanger Frist der größte Theil der wirthschaftlichen Zustände Rußlands sich völlig ändern, das städtische Wesen des Reiches vorwiegend jüdisch werden, die ohnehin schad-