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Die akademische Kunstausstellung in Berlin. 2.
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der humoristische Fonds ist nicht stark genug, um uns für manche malerisch lang­weiligen Partien zu entschädigen. Derselbe Vorwurf eines unzulänglichen male­rischen Könnens läßt sich gegen DefreggersLiebesbrief" erheben. Zwei hübsche Dirnen in Lebensgröße, etwa bis zu den Knieen dargestellt, lesen einen Brief, den der Liebste der einen aus seiner Garnison geschrieben hat. Die schelmisch lachenden Gesichter der Mädchen sind hübsch und lebensvoll. Damit hört aber auch das Interesse auf. Defregger hat schon mit seinem Hoferbilde bewiesen, daß er nicht Colorist genug ist, um große Flächen malerisch zu beleben. Jetzt hat er zum zweiten Male an solcher Aufgabe Schiffbruch gelitten. Ein Genrebild in gewohntem Maßstabe,Holzknechte in der Sennhütte", zeigt uns der Künstler von derselben Seite, von der wir ihn nunmehr schon seit zehn Jahreil kennen.

Mit den drei Koryphäen der Genremalerei ist es also in diesem Jahre nichts. Jene sechs Treffer aber heißen: Fritz Werner, Wilhelm Gentz, Christian Ludwig Bokelmann, Otto Kirberg, August Holmberg und F. Kraus. Bokelmann steht nun schon zum dritten Male, Kirberg zum zweiten Male unter den Ersten. Bei Bokelmann ist es wiederum die glückliche Stoff­wahl, der kecke Griff ins Menschenleben, welcher den Sieg entschieden hat. Das ausgeregte, nervöse Treiben auf der Straße vor einem Wcchllocal in den letzten Momenten vor der Entscheidung bietet ein ungemein dankbares Thema, welches der Maler auch bis auf den Grund ausgenutzt hat. Angehörige aller poli­tischen Parteien in prägnantester Charakteristik bewegen sich in lebhaften Debatten hin und her. Die Säumigen kommen von allen Seiten zusammen, um ihrer Pflicht zu genügen, die Agitatoren, unter ihnen am rührigsten die Socialdemo­kraten, setzen die letzten Hebel an, die Zettelvertheiler entfalten einen doppelten Eifer; mit fieberhafter Spannung wartet alles auf den Ausgang des Wahl­kampfes. Es liegt in der Natur des Stoffes, daß von einer einheitlichen Com- position nicht die Rede ist. Man merkt es dem Bilde an, daß es aus einzelnen Studien nach der Natur, die an und für sich von einer trefflichen Beobachtungs­gabe zeugen, zusammengesetzt ist, und das kalte, etwas nüchterne Colorit, das zum Theil freilich durch den Wintertag bedingt ist, trügt auch nichts dazu bei, um die mangelnde Harmonie zu ersetzen. Das hat in viel höherem Grade Otto Kirberg erreicht, der sowohl als Colorist wie als Herzenskenner über wärmere Töne verfügt. Er führt uns wieder in das saubere Gemach einer normännischen Fischerfamilie. Mann und Frau sitzen in Angst und Trauer an der Wiege ihres Kindes, welches im Fieber liegt, während die greise Großmutter in brün­stigem Gebete vor dem Bilde des Heilandes kniet. Das trübe Dämmerlicht im Winkel des Stübchens, ein Meisterstück der Clairvbscnrmalerei, unterstützt colo- ristisch sehr wirksam die schwermüthige Stimmung, welche die ganze Scene er-