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gung und Versöhnung" (1870—74), einer dogmatischen Monographie, welche die systematische Darlegung und Begründung seiner Principien enthält, hat er diese Grundanschcmnng auch in Schriften kirchenhistorischen Inhalts zur Geltung zu bringen gesucht, indem er dieselbe den verschiedenen Erscheinungen auf dem Boden der Entwicklung der Kirche und des christlichen Lebens als Maßstab für seiue Beurtheilung angelegt hat. Darin liegt sowohl die Bedeutung als die Schwäche auch seines neuesten Werkes, der „Geschichte des Pietismus", von welcher übrigens zunächst nur der erste Theil vorliegt, welcher neben den „Prolegomena" die Geschichte des reformirten Pietismus behandelt.
Fesselnd sind in diesem ersten Bande vor allem die „Prolegomena", in denen der Verfasser in der eben angedeuteten Weise seiue Stellung zur Erscheinung des Pietismus darlegt. Er thut dies, indem er in gesonderten Abschnitten über die „Reformation in der abendländischen Kirche des Mittelalters", über die „Eigenthüm- keit und Abstammung der Wiedertäufer", über „Katholicismus und Protestantismus", über „Lutherthum und Calvinismus" uud zuletzt über das „Bedürfniß des kirchlichen Protestantismus nach Reform" in ebenso ausführlicher wie anregender Weise handelt. Wie man aus deu Capitel-Ueberschriften ersieht, ist es der Zweck dieser Prolegomena, nach den inneren Beweggründen für die verschiedenartigen Neformbestre- bnngen innerhalb der Kirche zu forschen, auf verwandte Erscheinungen während der Zeit des Mittelalters und im Jahrhundert der Reformation hinzuweisen und dadurch deu Boden vorzubereiten für ein richtiges und tieferes Verständniß jener eigenthümlichen Bemühungen um die Nenbelebnng christlichen Sinnes nnd die Hebnng der Sittlichkeit, welche wir mit dem gemeinsamen Namen des Pietismus bezeichnen. Indem Ritschl bei der Behandlung dieser Fragen von der oben knrz charakterisirten Grnndanschauuug über das Wesen des Christenthums ausgeht uud dieselbe bei seiner Beurtheilung zu Grunde legt, gelingt es ihm, über manche Erscheinung ein neues, nicht selten geradezu überraschendes Licht zn werfen. Man empfängt bei der Leetttre dieses grundlegenden Abschnittes überall den Eindruck, daß man sich einer ebenso charakteristischen wie wissenschaftlich bedeutenden Persönlichkeit gegenüber befindet, welche die Fähigkeit besitzt von einem neucu und interessanten Standpunkte aus jene mannigfachen Erscheinungen des christlichen Lebens mit klarein Blicke zu beurtheilen und Berühruugspuukte und Znsammenhang auch da aufzufinden, wo man bisher nur einzelne von einander gesonderte Thatsachen erblickte. Freilich wird dieses Streben nach Pragmatismus nicht selten zn weit ausgedehnt, indem zwischen zeitlich und räumlich geschiedene» Erscheinuugen ein Zusammenhang angenommen wird, der sich dem Auge des objectiv zu Werke gehenden Geschichtsforschers verbirgt. Sicher ist es dem Historiker gestattet, dem iunereu Pragmatismus der Geschichte so viel als möglich nachzugehen, und wir lassen uns selbst eine nicht ganz exact begründete Hypothese gefallen, wenn sie nicht in der Luft schwebt, sondern in den Verhältnissen der betreffenden Zeit ihre Erklärung und Berechtigung findet. Ritschl überschreitet aber in dieser Hinsicht das Maß des Erlaubten, uud es liegt dies unseres Erachtens daran, daß er, von seinem feststehenden Systeme ausgehend, bisweilen diesem Systeme und seinen Principien zu Liebe mehr sehen will, als die historischen Thatsachen und ihre Bcrichte «us an die Hand geben. So geistreich nnd überraschend es z. B. klingt, wenn Ritschl sagt, daß die Wiedertäufer direct aus dem Kreise der franciscanischen Tertiarier, insbesondere der Observanten hervorgegangen seien, so dürfte cs doch schwer, wenn nicht unmöglich sein, diese Hypothese durch einen urkundlichen Beweis zn stützen. Obwohl dies Ritschl selbst Wohl bewußt ist, kann er es sich doch nicht versagen, diese mehr aus deu Cousequenzen seiner systematischen Aufstellungen als aus historischer Forschung hervorgegangene