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die Ausnahmefälle, in denen Verbindungsschüler wissenschaftlich und sittlich etwas Tüchtiges leisten, zahlreicher als dem Verfasser. Auf unserem heimatlichen Gymnasium bestanden zwei Verbindungen neben einander, von denen die eine allerdings, der von Pilger vorausgesetzten Regel entsprechend, ein Corps sein wollte, die andere dagegen sich ausdrücklich Burschenschaft nannte und den Jenenser Arminen öfters Zuzug lieferte. Die letztere hat vor einigen Jahren ihr 25jähriges Stiftungsfest uuter Betheiligung sehr angesehener „alter Herren" gefeiert, und beide haben meist zu den tüchtigsten Abiturienten ihr Contingent gestellt. Sodann aber können wir den Zusammenhang nicht recht begründet finden, den Pilger zwischen dem Verbindungstreiben einerseits, und Klagen über die Ueber- bürduug der Schüler sowie der Neigung zu gemeingefährlicher Geheimbündlerei im späteren Leben andererseits vermuthet. Im letzteren Falle scheint der Sache doch eine zn tragische, direct politische Bedeutung beigemessen zu werden; für jene Klagen aber wird wohl vielmehr der weichliche Psendohnmanismus verantwortlich zu machen sein, der sich in den letzten Jahrzehnten in den Mittelschichten unseres Volkes nur allzubreit gemacht hat, und dessen Hochflnth gegenwärtig wohl schon wieder hinter nns liegt.
Hiervon abgesehen, bleiben aber immerhin der schweren sittlichen Gefahren noch genug übrig, welche zur Bekämpfung des Schüler-Verbindungswesens verpflichten. Wenn auch iu paradoxer Form, enthält doch das Wort E. v. Fench- terslebens eine tiefe Wahrheit: „Es giebt nur eine Sittlichkeit, und das ist die Wahrheit; es giebt nur ein Verderben, und das ist die Lüge." Zu diesem Grundverderbeu aber, und zwar in seiner jesuitischen Raffinirtheit, wird der Verbindungsschiller geradezu verpflichtet nnd erzogen. Und die Personen, gegen welche die angebliche Kriegslist dieses Lügensystem's angewendet wird, sind gerade diejenigen, welche von Rechtswegen Gegenstand der zartesten Pietät sein sollten: es sind nicht nur die Lehrer, soudern sogar die Eltern. „Seit dem Ende der sechziger Jahre haben die meisten Konstitutionen folgenden oder einen ähnlichen Paragraphen: Fragt jemand (Küster,*) Alter oder Philister^) n. s. w.), der von unserem Standpunkt aus keine Berechtigung dazn hat, nach der Verbindung, so ist diese in demselben Augenblicke suspen'dirt. Es kaun also in diesem Falle jeder ruhig sein Ehrenwort geben, daß keine Verbindung bestehe." Ja sobald diese Scheinsuspensivn eiugetreteu, ist es sogar erlaubt, auf Ehrenwort die Frage u verneinen, ob man früher einer Verbindung angehört habe. Wenn eine Ge- ellschaft, die studentisch sein sollende Grundsätze hat, so mit dem Ehrenwort umzuspringen wagt, muß es uvch als ein relativ anständiges und aufrichtiges Verhalten erscheinen, daß etwa einer auf kurze Zeit ausspriugt, „um seinem Alten mit gutem Gewissen sein Wort geben zu können, daß er in keiner Verbindung sei." Wie aber auf die feierliche Aussage bezüglich des gegenwärtigen oder früheren Verhältnisses eines Schülers zu eiuer Verbindung kem Verlaß ist, so auch nicht auf Versprechungen für die Zukunft. Es kommt ausdrücklich einmal in den Acten, die Pilger benutzt hat, der Beschluß vor, daß ein solches Ehrenwort als erzwungenes „null und nichtig sein solle". Doch dürfen wir wohl annehmen, daß solche elende Maximen nur ausnahmsweise aufgestellt uud befolgt werden.
Dies Lügensystem tritt aber doch immer erst als Schutzmittel gegeu die Verfolgung auf. Es fragt sich also, welches die vorausgehenden Gründe zu einer solchen Verfolgung sind. Jedermann wird sich selbst sagen, daß unter denselben die Zeitverschwenduug eine wichtige Stelle einnehmen muß, wenige
Lehrer. **) Penswnsvater. Grenzboten III. 1380.