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frühes Liebesleben zwischen der schlanken, feinen Schulmeisterstochter Anna und der trotzig sinnlichen Jndith geschildert; die Idylle der verschiedenen Aufenthalte Heinrich Lees auf dein Gute seines Oheims, in der romantischen Umgebung erreicht das Höchste, was der Dichter überhaupt zu geben vermag. Nicht nur Gestalten werden hier vor uns lebendig, nicht nur blicken wir tief in die Seele des Helden und aller der Menschen hinab, mit denen er in diesen fast traumhaften und doch so lebensvollen Zuständen in Berührung kommt, nicht nur tritt die Scenerie der Handlung in Heller Beleuchtung und kräftigen Farben vor uns, sondern es erfolgt jenes wunderbare Zusammenschmelzen der Stimmung in Natur und Leben, welches uns in aller Einfachheit immer wie die Enthüllung innerster Geheimnisse berührt. Wir athmen mit dem Dichter den Hauch des thaufrischen Morgens, des sonnenheißen Waldes, wir durchleben den Phantastisch eindrucksvollen Wechsel der wunderlichen Begegnungen, die dem jungen Heinrich Lee zu Theil werden, und die Entfaltung einer Jugendliebe, deren Leid und Seligkeit sich nnter dem Andränge des Alltags nnd unter den Augeu der Alltäglichen wie eine fremde Blüthe entfalten muß, die für ein heimisches Kraut genommen wird. Die Poesie, welche der Dichter in das Gemeinste und Unscheinbarste zu legen weiß, die Innigkeit, mit der er sich dem Detail seiner Geschichte hingiebt und doch kanm ein uud das andere Mal im vorwärtsdrängenden Zug der Erzählung nachläßt, fordern zu den stärksten Vergleichen heraus, und doch sind alle Vergleiche falsch: Gottfried Keller ist und bleibt er selbst, und die Sicherheit, mit der er die Elemente seines Romans mischt und beherrscht, erwächst nur aus dem Boden seiner persönlichsten Eindrücke. Mit aller mannigfaltigen Erfindungskraft, aller Objektivität, die den Dichter auszeichnen, verleugnet er den subjectiveu Kern seiner ursprünglichen Anlage so wenig, als den heimatlichen Zug, der durch den „Grünen Heinrich" wie durch die späteren Dichtungen Kellers hindurchgeht.
Es ist natürlich mehr heimatlicher Zug, Eindruck und Einfluß der Umgebungen, als ein Mangel der poetischen Natur, wenn die Vorstellungsweise Kellers hier und da ein Element ungelöster Prosa und eine moralisch prosaische Betrachtung, die nicht subjectiv und wirkliches Eigenthum des Dichters geworden ist, aufweist. Der Poet, dem das tiefste Empfindungsleben erschlossen ist, dessen Gestalten meist von echtein Herzschlage und von gutem Blute sind, nimmt gelegentlich ein paar Situationen und ein paar Figuren auf, welche nur äußerlich eine Lücke füllen helfen und eine gewisse Nüchternheit nicht einmal mit dem Zaubermittel bewältigen, welches ihm sonst im reichsten Maße zu Gebot steht. Denn der eigentliche Fluß des Romans in allen Theilen, wo sich der Dichter nicht dramatisch darstellend und in breiterer Detaillirung ergeht (was freilich bei den vorzüglichsten Partien des „Grünen Heinrich" überall der Fall