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musikalischen Formgebung hin. Sehen wir nun zu, wie sich allem durch die wechselnde Geltendmachung der Principien der Einheit und der Mannigfaltigkeit gleichsam von selbst die Bildnngsgesetze für das musikalische Kunstwerk ergeben.
Zunächst wird die Tonfvlge oder Aecordfolge durch Aufhebung der Willkürlichkeit, durch die Bedingung der Übersichtlichkeit und des inneren Zusammenhangs zum organischen Bilden, zum Werden, Wachsen. Als solches erscheint schon die Harmonieverkettung, wenn aus einem Duraceorde der Duraccvrd seiner Quinte gleichsam herauswächst, oder wenn er unter sich Wurzeln treibt in den Duraccord seiner Unterquiut. Weiterhin haben wir aber noch deutlicher das Bild des orgauischen Wachsens in der musikalischen Themenbilduug aus rhythmisch-melodischen Motiven; wie der Halm immer nene Glieder emportreibt, so schießt Motiv an Motiv, sei es, daß dasselbe Motiv in anderer Tonlage wiederholt wird, oder daß ein anderes dazwischen tritt, immer die Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrend. Die Themenbildung wird zur musikalischen Steigerung, wenn die Motive in höhere Tonlage sich hinaufarbeiten, oder wenn sie rhythmisch lebendiger gestaltet oder harmonisch pikanter gewürzt werden, ohne doch ihren melodisch-rhythmischen Grundcharakter zu verändern. Schon die dynamische Steigerung allein, sei es durch stärkeres Spiel derselben Instrumente oder durch Vermehrung der Zahl der Instrumente, ans der Orgel durch Anziehen kräftigerer Register oder Uebergang auf ein Manual mit stärkeren Stimmen, auf dem Clavier durch vollgriffigeres Spiel, vermag diesen Eindruck hervorzubringen.
Am gewordenen, d. h. von dem in der Erinnerung sich aus dem Nacheinander allmählich zum Miteinander aufbauenden Tonstücke erscheint Einheit in der Mannigfaltigkeit als Symmetrie, uämlich als Parallelität rhythmischer Glieder, als Wiederkehr von Themen, als pyramidale Gipfelung der Melodie, als Wiederkehr der Tonarten, überhaupt als Ebenmaß in der ganzen Anlage.
Aber es kann auch die Verschiedeuheit sich hervortretend geltend mache» gegenüber der Einheit, so daß das Princip des Contrastes zur Erscheinung kommt, welcher, sofern er nicht Disparates, sondern Disjunctes einander gegenüberstellt, einer höheren Einheitsbeziehung nicht entbehrt. Der Contrast erscheint zuerst in der einfachen Ton- oder Aecordfolge als Auftreten eines anderen Klanges, weiter als Wechsel der Tonart, als Auftreten eines zweiten, vom ersten in Tonart, Rhythmik und Dynamik unterschiedenen Themas, in der Fuge als der dem Führer gegenübertretende Gefährte, in der Doppelfuge als zweites Subject, für größere mehrsätzige Formen als ein ganz anders angelegter zweiter Satz u. f. w. Auch die Pause kann als künstlerisches Wirkungsmittel contrastirend zur Verwendung kommen.
Das Aufeinanderplatzen der Gegensätze, der Kampf der contrastirenden