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auch den Leitmotiven nur eiue nebensächliche Bedeutung zuzugestehen, und bei näherer Betrachtung erscheinen sie auch bei Wagner durchaus nicht 'als der Kern seiner neueren Schöpfungen, wenngleich sein Nachbeter und Anbeter sie dafür ansehen, wie zur Genüge die „Führer" durch die Musik der Nibelungen, die Analysen Wagnerscher „Tondramen" in verschiedenen Musikzeitungen und ein Heer von Broschüren bewiesen.
In inniger Beziehung zu jener principiellen Scheidung der Ansichten über das Musikalisch-Schöne steht eine verschiedenartige Behandlung der musikalischen Darstelluugsmittel. Die Vorkämpfer für die obligatorische Bedeutsamkeit der Musik erscheinen als Gegner der historisch gewordenen musikalischen Formen nicht nur, sondern auch der Gestaltuugsweise innerhalb dieser Formen. Welche Principien diese Formgebung beherrschen, werden wir sogleich untersuchen; hier sei nur bemerkt, daß z. B. die Einheit der Tonart von den Gegnern der formalistischen Richtung als ein ganz unnöthiger Zwang angesehen wird, daß sie ferner eine Wiederkehr entwickelter Themen durch die Verarbeitung der Motive überboten zu haben glauben, daß sie überhaupt eine übersichtliche Gliederung des Tonmaterials als Schematismus verwerfen, die naturgemäße gemeingefällige Entwicklung einer Melodie in der Oper für eine unberechtigte Hemmung der Handlung halten, mit einem Worte, der Musik nur schmale Rechte gegenüber der Poesie einräumen und ihre eigenen Bildungsgesetze nur in sehr beschränktem Maße zur Geltung kommen lassen. Wenn diese Beschränkungen in der Oper in gewissem Grade berechtigt sind, so muß es doch als eiue starke Verirruug bezeichnet werden, wenn auch Jnstrumentalwerke mit Programm in derselben Weise die eigentliche musikalische Gestaltung vermeiden und lebensunfähige Zwittergebilde schaffen, welche als Opernmusik ohne Text und Scene bezeichnet werden müssen.
Im allgemeinen kann man behaupten, daß eine charakteristische Verschiedenheit in der Behandlung der musikalischen Mittel besteht zwischen denen, welche der Musik eine anderweite Bedeutung octroyiren, und denen, welche in ihr nichts anderes sehen und suchen als eben Musik; die Verschiedenheit erstreckt sich selbst bis auf das harmonische Material, und die extremsten Zunkunfts- musiker scheuen sich nicht, das Wort auszusprechen, daß das Wesen der Musik nicht die Consonanz, sondern die Dissonanz sei, die Consonanz aber nur etwa in ähnlicher Weise die naturgemäße Folge bilden müsse, wie sich die Wiedersprüche des Lebens in des Todes allgleiches Eins endlich auflösen. Der Classi- cist sucht statt der schwarzen Fittiche des Todesengels vielmehr die rosenfarbene» Schwingen freundlicher Genien für den Flug seiner Phantasie zu gewinnen; nicht in finstere Abgründe, nicht in das Grauen des von Gewitterstürmen aufgewühlten Oceans führt er uns, sondern zu sonnigen Höhen und lachenden