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Das formale Element in der Musik.
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ganze Lächerlichkeit derartiger Versuche tritt zu Tage, wenn man zwei von ein­ander unabhängige Analysen desselben Werkes mit einander vergleicht; die Will­kür eines derartigen Verfahrens, der gänzliche Maugel an positiven Anhalten geht dann sofort aus ihren Widersprüchen hervor.

Die andere Richtung ist freilich in ihrem Extrem gleich verirrt, sieht iu der Musik uur ein ergötzliches Cvmbiuationsspiel gleich den wechselnden Gestaltungen des Kaleidoskops uud meint die unleugbare Fähigkeit deu Mnsik, dem Ausdrucke des Wortes zu folgen und ihn zu verstärken, dadurch zu vernichten, daß sie nachweist, wie derselben Melodie mit gutem Erfolg ganz verschiedene Texte unter­gelegt werden können und wie derselbe Text tausendfach verschieden compouirt werden kann. Sie schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem sie mit der der Musik sicher mangelnden Fähigkeit, bestimmte Gefühle wie Heimweh oder Eifer­sucht zu schildern, ihr zugleich die Fähigkeit abspricht, Stimmungen zu erweckeu, welche deu allgemeinen Grundcharakter einer größeren Anzahl von Affecten bilden. Sicher kann Musik einen elegischen, wehmüthigen, oder einen sehnenden, verlangenden, oder einen aufgeregten, stürmischen Charaktar haben; ob aber die Trauer dem Verluste der Geliebten oder dem scheidenden Sommer gilt, ob die Sehnsucht Liebe oder religiöses Heilsbedürfniß ist, ob der heldenhafte Ansturm ein endlich erreichtes Glück oder den Kampf mit dem Todfeinde bedeutet, das kann die Musik nicht sagen. Die Verbindung mit der Poesie giebt ihr aller­dings jene fehlenden Bestimmungen, aber die Wagnerianer irren, wenn sie meinen, damit die Grenzen der Musik zu erweitern, daß sie Motiven, die in bestimmter Situation zuerst aufgetreten sind und dort concrete Bedeutung gewonnen haben, diese concrete Bedeutung auch für die Folge lassen; wenn auch niemand die Möglichkeit, ja die Geneigtheit des Hörers bestreiten wird, beim Wiedererklingen der Motive jener Situationen sich zu erinnern, so ist es doch ein arger Fehl­schluß, daß die Musik bannt selbst die Fähigkeit bewiesen habe, auch ohne das specialisirende Wort mehr als eine allgemeine Stimmung auszudrücken und darum ähnliches auch ohne Scene und ohne Wort nach einem ungefähren Pro­gramm zu leisten vermöge ganz abgesehen von der Gefahr, durch die Bei­behaltung und Weiterbildung des Gebrauchs der Leitmotive einer mechanische», geistlosen Symbolik in die Arme zu laufen. Ein Genie wie Wagner braucht diese Gefahr nicht zu fürchten, aber ein weniger geniales Epigonenthum wird ihr rettungslos verfallen. Vielleicht dürfen wir, ohne uns den Vorwurf eines hinkenden Vergleichs zuzuziehen, aus die Attribute der antiken Gottheiten hin­weisen; wenn ein Phidias der Pallas Athene den Helm und die Aegis zuer­theilt, so will er doch damit nur der Auffassuug des Beschauers zu Hilfe kom­men durch die Erinnerung an die Bedeutnng jener Attribute; eine Frauen­gestalt mit Helm und Aegis ist aber darum noch lange kein Pallas. So ist