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Lebende Bilder : eine ästhetische Studie.
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der Künstler hat gefehlt; nur die Verwendung seiner Schöpfung in einem ihrem Zwecke widersprechenden Sinne war verfehlt.

Die nächste Stufe zeigte uns ein Porträt. In der Entwicklung der bildenden Kunst nimmt das Porträt eine eigenthümliche Stellung ein; es bildet die Brücke von der Idealität der Formen, wie sie sich aus der dem Subjecte entspringenden Gesetzmäßigkeit ergiebt, zur Naturwahrheit, uud zwar tritt hier das eigenthümliche Verhältniß hervor, daß streng sich geltend machende Idealität und frappante, ja bis zum Peinlichen getriebene Naturwahrheit neben einander hergehen, zugleich ein Beweis dafür, daß die streng stilisirten Darstellungen der älteren Kunst­entwicklung keineswegs nur im formalen Unvermögen, sondern auch in einem bewußten Streben ihren Grund hatten, das nur noch nicht dazu gekommen war, die beiden Gegensätze auszugleichen. Daß neben der idealen Kunst die realistische, ja man kann wohl sagen die naturalistische besteheu konnte, hat seinen Grund im Wesen des Porträts: das Porträt soll gerade dieses einzelne Wesen wieder­geben, und mit je genauerer Beobachtung aller Zufälligkeiten der Erscheinung dies geschieht, um so größer scheint der Triumph der Kunst und des Künstlers zu sein. Erst allmählich tancht die Erkenntniß auf, daß das Porträt mehr geben kann als die zufällige, momentane, bis zum Verwechseln ähnliche Er­scheinung, daß vielmehr seine höchste Aufgabe die ist, das bleibende Wesen des Menschen darzustellen und aus den mancherlei momentanen Aeußerungen der Formen diejenigen wiederzugeben, welche einen Blick in den Charakter des Menschen gestatten, so daß der Porträtist der schärfste Charakteristiker ist und die zufälligen Formen nur das Substrat für die Darstellung des seelischen und geistigen Lebens sind. So macht das Porträt den Weg von stupender Realität zur idealen Auffassung von Seiten des Subjectes und kommt so jener anderen Entwicklung der übrigen von der idealen zur naturwahren Auffassung hinstre- bendcn Kunst entgegen. Dies äußert sich in der Praxis, abgesehen von dem allgemeinen Gange, besonders darin, daß die Künstler allmählich immer mehr das Porträt in ihre Darstellungen aufnehmen, von der Sonderdarstellung der Stifter heiliger Bilder bis zur Aufnahme in den unmittelbaren Verkehr mit den Heiligen und schließlich bis zur Verwendung des Porträts für die Charakter­köpfe in der Darstellung selbst, wodurch die letztere, ihrem idealen Gehalte und Gepräge zum Trotz, gerade deu Vorzug der Naturwahrheit gewinnt und sich so auf dem Wege zur endlichen Verschmelzung der beiden Gegensätze befindet. Wenn nun ein großer Maler zur Zeit der vollständigen Entwicklung des Porträts eiu solches Werk schafft, so liegt dessen Werth außer in der eigentlich malerischen Behandlung, wie sie gerade diesen bestimmten Künstler charcckterisirt, besonders in jener Vertiefung des Charakters, die uns immer und immer wieder zur Be­trachtung reizt, obschvn das persönliche Interesse ganz verschwunden ist oder