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Die Hauptströmungen in der bildenden Kunst der Gegenwart : 6. Pilotys Schule: Franz Defregger. Matthias Schmid. Alois Gabl.
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bis über Innsbruck hinaus ein Defreggercultus Eingang gefunden, der sich seine Stelle neben dem Cultus der Heiligenbilder, welcher bisher fast ausschließlich das nicht sehr bedeutende Kunstbedürfniß deckte, erobert hat, und man darf den glücklichen Zufall preisen, der gerade einen Künstler von so scharf ausgeprägtem Schönheitsdrcmge und Schönheitsgefühl wie Defregger zum Gegenstande natio­naler Verehrung machte. In einem Lande, wo bis dahin der Jesuitenstil in seiner prunkenden Unwahrheit, in seiner gedankenlosen, aber die Menge berau­schenden Prahlsucht alles künstlerische Empfinden beherrscht hat, ist die Ein­bürgerung der schlichten Defreggerschen Kunstart doppelt erfreulich. Nicht bloß in den Städten haben die Schaufenster der Buch- und Kunsthändler den Repro- ductionen Defreggerscher Bilder eine breite Stelle eingeräumt, die Hausirer haben Stiche, Photo- und Lithographien bis hinauf in die einsamsten Gebirgs- dörfer getragen uud überall willige und zahlreiche Käufer gefunden. Freilich berührte Defregger auch zur Zeit, als sich sein Aufenthalt in Bozen seinem Ende näherte, die Stelle, wo der Tiroler am meisten sterblich ist, das Capitel, in welches sich die ruhmvollen Erinnerungen seiner historischen Erinnerung zu­sammendrängen, den Franzosenkrieg von Anno 1809.

Zum ersten Male seit dem Speckbacherbilde, das seinen Namen bekannt gemacht hatte, verließ er wieder das Gebiet der Idylle, um sich der Historie zuzuwenden, wobei er wieder mit richtigem Tact sich auf ein räumlich geriuges Maß beschränkte. Die Forderung, daß ein Historienbild mindestens lebensgroße Figuren aufweisen müsse, ist ja ein veralteter Schulbegriff, dessen Verkehrtheit heute nicht mehr der Widerlegung bedarf. Nicht in den räumlichen Dimensionen, sondern in der charakteristischen Erfassung des Gegenständlichen, in der richtigen Behandlung des Zeit- und Localcolorits und in der vollkommenen geistigen Durchdringung des Stoffes ist das Weseu nicht bloß der Historienmalerei, son­dern auch jedes anderen Zweiges der Malerei zu suchen. Wir fragen heute: Steht das gewählte Maß im Verhältniß zur Bedeutung des Gegenstandes? nnd, wenn diese Frage eine befriedigende Antwort gefunden hat, fragen wir weiter: Steht das geistige und technische Können des Malers im richtigen Verhältniß zu der räumlichen Größe seines Gegenstandes? Cornelius, Rethel, Schnorr von Carolsfeld vermochten lebens- und überlebensgroße Figuren mit Geist und Leben zu erfüllen, so lange sie nicht mit der Farbe zu rechnen hatten. Bei Kaulbach ist das schon zweifelhaft. Von den beiden Hauptseiten seiner Thätigkeit ist die als Illustrator, als witziger Satiriker die angenehmere. Seinen Gestalten in großem Maßstabe, wie wir ihnen auf den monumentalen Malereien in München und Berlin begegnen, fehlt es nicht an einschmeichelnder Eleganz und Zierlichkeit, an Witz und Pfiffigkeit, dafür aber an Energie und höherem geistigen Leben. Gussow kann struppige Bauern und dralle Mädchen in Lebens-