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Der (Lhorgesang in der evangelischen Kirche.
Ende Januar hielt der Klvsterpropst Freiherr v. Liliencron aus Schleswig im wissenschaftlichen Verein in der Singakademie in Berlin über das obenstehende Thema einen Vortrag, dessen Inhalt in hohem Grade geeignet erscheint, das Interesse der weitesten Kreise in Anspruch zu nehmen. Der Redner hob zunächst hervor, daß auch bei Behandlung dieses wichtigen Gebietes die verschiedenen, in der evangelischen Kirche wechselnd an der Herrschaft gewesenen Parteistandpunkte ihren schädigenden und verwirrenden Einfluß geübt, insofern sie darin zu einander in einer gewissen Berührung standen, daß sie sämmtlich eine sorgsamere, liebevollere Pflege der kirchlichen Tonkunst nicht mit ihrer Würde und ihren Zielen für vereinbar hielten. Hören wir doch noch heute bisweileu Einwürfe gegen jede Kirchenmusik, welche über Orgelspiel und Gemeindegesang hinausgeht! Die in Vorurtheilen nicht Befangenen empfinden es aber mit schmerzlichem Bedauern, daß die evangelische Kirche so arm ist an jenem edlen Schmuck, den die kirchliche Tonkunst verleiht, und dies Bedauern hat sich erheblich gesteigert, seitdem das rückwärts gewandte Auge der Musik die Schätze der alten Kirchenmusik, sozusagen wie ein verlorenes Land wieder entdeckt hat, seitdem wenigstens in unserm Coneertsälen die Schöpfungen Joh. Seb. Bach's wieder erklingen, seitdem in den katholischen Kirchen Süddeutschlands die Messen Palcstrinas, Orlandos und ihrer Nachfolger aus langem Todesschlafe zu neuem Leben erwacht sind. Da hat sich denn längst mancher Gedanke der Frage zugewendet, ob es nicht möglich sei, auch in der evangelischen Kirche die Chormusik wieder in ihre alten Rechte einzusetzen; und diese Frage mit Ja! zu beantworten, geschichtlich darzulegen, daß die Einförmigkeit des heutigen evangelischen Gottesdienstes, gegenüber dem katholischen, sich nicht aus principiellen Aenderungen, sondern nur aus eiuem langsamen Absterbeproceß erklärt, war der vornehmste Zweck des erwähnte» Vortrags.
Zunächst muß — dahin äußerte sich der Redner - der den Laien naheliegenden Meinung entgegengetreten werden, als ob die evangelische Kirche Ursache gehabt hätte, sich gegen die Form, in welcher die Kirchenmusik früher geübt worden — gegen die Messe zu erklären. Nichts kann irriger sein. Nicht die Messe als Gottesdienst wurde von der evangelischen Kirche abgeschafft, sondern nur der dogmatische Begriff des Meßopfers, und es wurde darum aus der Liturgie der Messe alles dasjenige beseitigt, worin sich das Meßopfer darstellte; alles andere wurde beibehalten als Abendmahlsgottesdienst, und wie in der alten Kirche die Messe oder das Hochamt den Hauptgottesdienst der Sonn- und Festtage bildet,