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Die geschichtliche Entwicklung der orientalischen Frage.
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Unermeßlich, weil sie eben in der Natur der Dinge selbst liegen. Man sollte, wenn man der Pforte Vorwürfe wegen der mangelhaften Ausführung ihrer immer und immer wieder erlassenen Verordnungen macht, doch nicht vergessen, daß der Sultan doch nur dann dasür verantwortlich gemacht werden könnte, wenn er den Mechanismus seines Staatswesens vollkommen in der Hand Hütte. Das ist aber thatsächlich nicht mehr der Fall gewesen, seitdem der osmanische Staat seinen ursprünglichen Charakter, der auf eine erobernde Militärmouarchie hinauslief, verloren hat. Seitdem find in den einzelnen Districten des os- manischen Reiches die eigentlichen Machthaber die türkischen Paschas, welche, ohne jede Rücksicht auf den stets in der Ferne weilenden Sultan, Regierung und Verwaltung ihrer Länder nach eigener Willkür handhaben. Die Snltcme selbst stehen diesen Zuständen, wie sie sich in dem seinem Verfall unrettbar entgegeneilenden Staate nun einmal gebildet haben, ohnmächtig gegenüber. Sie haben das schon vor vielen Jahrzehnten selbst eingesehen und sich durch An­näherung an die Zustände der übrigen europäischen Staaten zu retten gesucht. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Reformversuche Seliins III., welche vor allem darauf ausgingen, die Gewaltherrschaft seiner eigenen Garde, der Janitscharen, zu brechen, ehrlich gemeint gewesen sind. Wozu aber haben sie geführt? Sowie man wagte, an die Privilegien der bevorrechteten Klassen mos- limischen Glaubens zu tasten, fiel der Sultan der Wuth der fanatisirten Muha- medaner zum Opfer: Selim III. wurde auf Betrieb der Janitscharen von den Ulemas abgesetzt (29. Mai 1807). Nicht besser erging es den Reformversuchen, welche Mahmud II. in den Jahren 182032 in Bosnien machte; sie bliebe,: ohne jeden praktischen Erfolg. Es ist also vor allem der Widerstand der Osmanen selbst, welcher eine wirkliche Besserung der Lage unmöglich erscheinen läßt. Die türkischen Paschas würden, wie Ranke mit furchtbarer Wahrheit ausführt, dem Christen, der es gewagt hätte, sich auf den Hatischerif von Guilhane zu berufen, den Kopf abgeschlagen haben.

Aber noch eine andere Schwierigkeit kam hinzu, die sich namentlich nach dem Erlaß des dnrch den Krimkrieg veranlaßten Hat-Humayun vom 8. Februar 1856 klar gezeigt hat. Nicht die Türken allein verschmähen und verabscheuen eine Vermischung und Verschmelzung mit den Christen, sondern fast noch stär­keren Widerstand setzen die Christen selbst einer solchen entgegen. Sicherheit der Person und des Eigenthums sind die Forderungen, die sie zunächst auf­stellen; im Uebrigen aber wünschen sie eins Annäherung au die Türken keines­wegs. Immer und immer wieder richteten sie ihre Angen nach den fremden Reichen hin, die griechischen Christen auf Nußland, die an Zahl viel schwächeren Katholiken namentlich auf Frankreich. Das aber war es, worin die Türkei mit Recht von Anfang an die größte ihr drohende Gefahr sah.

Gvenzboten I. 1M0. 18