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verfolgt und schließlich zeigt, in welcher Weise beide Kategorien sich in der Gegenwart gegenüberstehen. Eine dritte Klasse hat er wohl mit gutein Grunde bei Seite gelassen: die leider immer mehr sich ausbreitende Klasse derer, die wir mit dem (früher durchaus ehrenvollen, heute nur noch in verächtlichem Sinne gebrauchten) Worte „Literaten" bezeichnen. Fragen wir, iu welchen Händen gegenwärtig die deutsche, speciell die neuere deutsche Literaturgeschichte sich befindet, so ist die Autwort in: allgemeinen eine recht betrübende. Der junge Nachwuchs der zunftgerecht geschulten Specialisten dreht sich, wie die jungen Hündlein, die ihren Schwanz haschen, ewig in demselben Zirkel umher: der Zirkel umfaßt eiu paar Jahrzehnte ans der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; was darüber hinausliegt, ist ihnen unbekanntes Land, in das sie sich auch nicht hineingctrauen. Da sitzen sie nun zusammen und schreiben in ihrer orakelnden, Pretiosen und prätentiösen Manier dicke Bücher über Geister sechsten und siebenten Ranges ans Lessings oder der Sturmund Drangzeit; aber was ist ihnen Heinrich V.Kleist oder Grillparzer oder Hebbel oder Gutzkow? Von den heutigen Historikern sagt Riehl: „Eine Weltgeschichte zu schreiben gilt fast für reine Dilettanten-Bermessenheit; wer im neunten Jahrhundert zu Hause ist, der darf sich beileibe uicht ans neunzehnte wagen." In der Literaturgeschichte ist es womöglich noch schlimmer; da heißt es gar: Wer im achtzehnten Jahrhundert zu Hause ist, der darf sich beileibe nicht ans neunzehnte wagen. Wenn nur die Beschäftigung mit der neueren deutschen Literatur nun wenigstens in den Händen von „wissenschaftlichen Schriftstellern" läge, dann brauchte man ja die Zünftler in der stillen Freude an ihrer Regenwürmergräberei nicht zu stören. Leider ist dem nicht so; leider ruht die Darstellung und Beurtheilung der neueren deutschen Literatur fast ausschließlich in den Händen von „Literaten", die durch Dreistigkeit alles, was ihnen sonst etwa fehlt, ersetzen zu können meinen. Von der Literatur der Gegenwart wird dies jeder, der überhaupt ein Urtheil hat, und der sich sein Urtheil nicht machen läßt, ohne weiteres zugestehen müssen. Wie lange muß man in uuseren Zeitschriften und Zeitungen suchen, ehe man über einen neu erschienenen Roman, ein neues Schauspiel, einen neuen Band Gedichte einer wirklichen Kritik begegnet! Und wenn die Kritiklosigkeit nur immer bloß auf Unfähigkeit zurückzuführen wäre! Es wäre noch ein Glück. In vielen Fällen hat sie aber leider eine weit schlimmere Quelle: die Kameraderie und die gegenseitige Reclame. Denn diese „Literaten" sind ja fast alle zugleich große Dichter. Aber auch die Literatur der vorcmliegeuden Jahrzehnte liegt zum guten Theil in unzulänglichen Literatenhänden. Die wenigen „wissenschaftlichen Schriftsteller", die sich ihrer annehmen, kann man an den Fingern herzählen.
Der Verfasser des vorliegenden Buches gehört zu der angedeuteten erlesenen kleinen Schaar. Adolf Stern ist einer der gründlichsten Kenner der deutschen Literatur der letzten fünf, sechs Jahrzehnte. Die sachkundige Auswahl und die wohlmotivirte Gruppiruug, die seiue beideu Sammelwerke: „Fünfzig Jahre deutscher Dichtung" und „Fünfzig Jahre deutscher Prosa", 1820 —1870, (erstere bereits in zweiter Auflage erschienen) auszeichnen, beweisen, in welchem Grade er das Gebiet beherrscht. In dem vorliegenden Buche hat er sechs größere Aufsätze zur Literatur der Gegenwart, die früher einzeln in Zeitschriften veröffentlicht worden waren, vereinigt; die Themate lauten: Ludwig Deck in Dresden — Wilibald Alcxis — Friedrich Hebbel — Karl Gutzkow - Eduard Mörike - Franz Dingelstedt. Ihnen reiht sich noch ein kleines Erinnerungsblatt an den 1874 verstorbenen, nur in engeren Kreisen bekannt gewordenen „Dichtercomponistcn" Peter Cornelius an. Was allen diesen Charakterbildern in gleicher Weise eigen ist, das ist die ernste und aufrichtige Hingabe an den Gegenstand, die Sicherheit und Reinheit des