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„Herausgeber" fungirt oder figmirt. Wie im Buchhandel, seitdem „des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützende Privilegien" erloschen sind, die Lotterwirthschaft aufgehört hat, daß die Texte unserer Klassiker von Setzern und Correctoren hergestellt wurden, wie kein deutscher Buchhändler heute mehr wagen würde, einen Band Schiller oder Goethe drucken zu lassen, ohne einen sachkundigen Herausgeber mit der Durchsicht des Textes zu betrauen, so wollen sich auch die Musikalienverleger offenbar nicht mehr damit begnügen, den Nachstich der Platten von ungenannten Correctoren überwachen zu lassen, sondern sie haben, wie man sieht, alle gesucht, Fachleute für die Herstellung ihrer Ausgaben zu gewinnen, die mit ihrem Namen für das Geleistete einstehen. Freilich ist auch das andere auf den ersten Blick klar, daß die genannten Namen nicht alle die gleiche Bürgschaft für die Gediegenheit der Leistung bieten einer so heiklen Aufgabe gegenüber, wie gerade Chopins Werke sie dem Herausgeber stellen.
Die Schwierigkeit liegt zunächst in der Herstellung eines correcten Textes. Die eignen Handschriften Chopins, auf die natürlich, wo es irgend möglich war, in erster Linie zurückgegangen werden mußte, sollen von Nachlässigkeiten aller Art und offenbaren Schreibfehlern wimmeln. Falsche Noten und Notenwerthe, falsche Vorzeichnungen und Schlüssel, Auslassungen von Accordintervallen und Punkten, Unrichtigkeiten in der Begrenzung der Octavenbezeichnung und der Bogen, ungenügende Vortragszeichen und Pedalbezeichnungen sollen in Hülle und Fülle darin zu finden sein- Eine Berufung auf die Manuscripte also, als auf ein sicheres Fundament der Textgestaltung, muß unter solchen Umständen vielfach bedenklich erscheinen; von entscheidenderer Wichtigkeit werden die Originaldrucke sein. Leider bilden aber auch diese keine absolut zuverlässige Grundlage für einen correcten Text. Die vorhandenen französischen, deutschen und englischen Originalausgaben weichen vielfach von einander ab und enthalten zahlreiche offenbare Fehler. Es gilt dies nicht bloß von den späteren Nach- und Neudrucken, die für die kritische Feststellung des Textes so gut wie keiue Bedeutung haben, sondern auch von den ältesten Originaldrucken. Was die Abweichungen betrifft, so haben die verschiedenen Originalausgaben freilich alle ihren eigenthümlichen Werth. Die Pariser haben den Vorzug, daß sie, öfter als die deutschen und englischen, während des Stiches Chopin selbst in Paris zur Correctur vorgelegt werden konnten und thatsächlich vorgelegt worden sind; die deutschen und englischen wiederum enthalten, da sie meist später sind als die französischen, hie und da von Chopin selbst gemachte nachträgliche Veränderungen, beziehentlich Verbesserungen.
Angesichts dieser Thatsachen müßte man an der Herstellung eines durchweg authentischen Chopin-Textes wohl verzweifeln, wenn nicht andere Mittel zu Hilfe kämen: Originaldrucke in Privatbesitz, in denen von Chopins eigner