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Die Hauptströmungen in der bildenden Kunst der Gegenwart : 2. Carl Gussow und der Naturalismus.
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dann die Compositionslosigkeit weniger fühlbar wird als bei einer größeren Figurenmenge, die doch auf einem Bilde nicht so chaotisch durcheinander laufen darf wie in der Natur auf der Kirmes.

Was Julius Meyer über Courbets Malweise gesagt hat, paßt genau auf diejenige Gussows. Auch er setzt mit größter Sicherheit Ton neben Tou fertig hin, weil er alle Töne unter gleichmäßiger Beleuchtung sieht und ebenso wieder­giebt. Gussow liebt die ungebrochenen Farben: ein leuchtendes Gelb uud ein kräftiges Roth bilden gewöhnlich die Dominante, der sich die übrige Scala unterordnet. Das gelbe Kopftuch der einen Dirne auf.demKätzchen" machte ein solches Glück, daß es nicht bloß Gussow selbst wiederholte, sondern daß auch seine Schüler lange Zeit kein Bild malen konnten, ohne dieses gelbe, weißpunk- tirte Tuch daraus anzubringen.

Es ist natürlich, daß Gussow im Ueberschwang des Schöpfungsdranges, in der Freude, es der Natur gleichthun zu können, über das Ziel hinausschoß und bisweilen das künstlerische Maß verlor. Schon auf deinKätzchen" hatte er die Naturwahrheit soweit getrieben, daß er sogar die Fingernägel der Bäue­rinnen zu säubern unterlassen hatte, und an den entblößten Armen und den von Gesundheit strotzenden Wangen gingen einige branstig rothe Flecke selbst über das Maß des Natürlichen hinaus. Hatte sich Gussow schon für diese Vauerngestalten nicht die schönsten Modelle ausgesucht, so streifte das zweite Bild, derBlumenfreund", hart an die Caricatur. Der alte Mann, der am Fenster steht und seine Lieblinge betrachtet, war nicht nur ein Blumenfreund, sonderu, wie die Kirchendiener auf CourbetsBegrübniß zu Oruaus", ein ebenso eifriger Freund von Spiritussen, wovon die Rubinen auf seiuer Nase eiu deut­sches Zeugniß ablegten. Man wäre nach diesen beiden Bildern geneigt ge­wesen, zu glauben, daß Gussow die höchste Naturwahrheit in der größten Häß­lichkeit und Niedrigkeit zu erreichen vermeint. Indessen widerlegte das dritte Bild,Verlorenes Glück", diese Ansicht. Eine junge Frau von strengen, aber edlen Gesichtszügen, die in schmerzlicher Resignation vor sich hinblickt, hält ein blondgelocktes Kind in ihrem Arme, welches in seliger Unbefangenheit nach einem Gegenstände ausschaut, der seine Neugier gereizt hat. Hier fanden sich alle Vor­ige wieder, die man auf demKätzchen" bewunderte: eine vollendete Zeichnung, ^uie plastische Modellirung und eine zu höchster Lebendigkeit gesteigerte Natur- Wahrheit. Die Trailerkleider der Wittwe und des Kindes ließen eine Entfaltung koloristischer Bravourstücke nicht zu, erhöhten aber auch zugleich die harmonische Haltung des Bildes, welches nirgends durch eine Geschmacklosigkeit verletzte, wie die meisten seiner Portraits, besonders die weiblichen, die Gussow von einem Möglichst grell gefärbten Hintergrunde abzuheben liebt, gerade wie der ihm auch

Grenzboten I. 1380. S