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Die Venus von Milo.
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vor sich gehenden Handlung befinden kann: auch die Bewegung muß den Charakter der Rnhe, der Möglichkeit einer Dauer in sich tragen, nicht nur ihrem Gesammteindrucke nach, sondern durch die Haltuug des Körpers selbst uud das Verhältniß seiner Theile zu einander.

Oder aber der Künstler wollte wirklich einen einzelnen Moment, eine Be­wegung darstellen, welche sich uur innerhalb des Verlaufs einer Reihe von Momenten denken läßt, die daher nicht darauf berechnet ist, daß der Körper dauernd in dieser Haltung gedacht werde, souderu daß die Phantasie des Be­schauers in die Momente vor dem für die Darstellung gewählten Augenblick zurück und über ihn in die der Darstellung folgenden Momente hinausführe und so die Handlung vervollständige, die der bildende Künstler, den Grenzen seiner Kunst gemäß, nur in demfruchtbarsten" Moment erfassen konnte. In diesem Falle ist der Grund dieser Bewegung das Hauptmotiv, die Art der Darstellung aber ist die dramatische, im Gegensatze zu jener ersteren, in der geschichtlichen Entwicklung der Kunst vorhergehenden, der typischen.

Handelt es sich nun um die Beurtheilung eines Werkes der bildenden Kunst, so wird man sich also zuerst über den Charakter des Grundmotivs und der ihm entspringenden Art der Darstellungsweise klar werden müssen. Ist in Folge unvollständiger Erhaltung die Entscheidung nicht sofort klar, so wird man aus der Art der Bewegung, aus dem Verhältnisse der Körpertheile zu einander, aus dein daraus entspringenden Gesammtcharakter der Bewegung den Schluß auf den Charakter des Grnndmotivs ziehen müssen, eine Schlußfolgerung, die berechtigt ist, weil sich aus dem Wesen des Kunstwerks ergiebt, daß die Darstellungsweise in nothwendigem ursachlichem Zusammenhange mit dem Charakter des Grnndmotivs steht, also diesem nicht widersprechen kann.

Wenden wir diese Methode der Untersuchung auf die melische Statue au, so ergiebt sich Folgendes.*) Der Oberkörper zeigt eine doppelte Bewegung: von links nach rechts (diese Bezeichnungen immer im Sinne der Statue, nicht des Beschauers gebraucht) und von hinten nach vorn. Beide Bewegungen sind sehr stark, die erstere z. V> in dem Grade, daß eine durch den Nabel gezogene Senkrechte an der linken Seite des Kopfes vorbeigeht, ohne diesen zu berühren. Nicht minder deutlich tritt sie an der gewundenen Linie des Rückgrates hervor. Die Biegung nach vorn zeigt sich besonders deutlich in der Profilansicht. Hier fällt anch die eigenthümliche Haltung des Kopfes besonders stark auf: während der Hals schräg nach vorn vorgebeugt ist, bleibt der Kopf dennoch wagerecht, was nur durch eiu starkes Heben des Kopfes im Gegensatz zu dem vorgebeugten

*) Eine genaue anatomische Analyse giebtDie hohe Frau von Milo" S> 10IS mit den dazu gehörigen Abbildungen Tafel I, N n, III.