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Die Venus von Milo.
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ist, was es nicht wäre, wenn ihm die innere Nothwendigkeit, die Folgerichtigkeit abginge. Ist aber die melische Statue ein Kunstwerk in diesem Sinne, so ist der Weg ihrer Entstehung naturgemäß der gewesen, daß der Künstler von dem Keimpunkte aus geschaffen hat, so daß das Hauptmotiv für die Gestaltuug aller einzelnen Theile des Werkes maßgebend geworden ist nnd die sich ergebenden Nebenmotive nur eine Folge dieses Hauptmotivs sind, dieses somit in ihrer Weise und nach Maßgabe ihrer Eigenthümlichkeit wiederspiegeln. Die Haltung einer Hand, eines Fußes, des Kopfes, die Fältelung des Gewandes mußte gerade so werden, weil der Künstler das bestimmte Hauptmotiv gewählt hatte. Springt dieses, in Folge der Zertrümmerung einzelner Theile der Statue, nicht sogleich in die Augen, so muß, wegen des vorhandenen nothwendigen Zusammenhanges aller Theile und der allen gemeinsamen einheitlichen Quelle, ein Rückschluß aus den Nebenmotiven auf das Hauptmotiv möglich sei«. Je mehr die Nebeu- motive auf ein nnd dieselbe Ursache hinweisen, je übereinstimmender sie sich alle aus Derselben Ursache erklären lassen, um so sicherer ist in dieser bewegenden Ursache das Hauptmotiv zu erkennen. Da bei der melischen Statne grade die­jenigen Theile fehlen, welche das Hauptmotiv unbestreitbar aufklären müßten die Arme mit den Händen, so ist bei der Untersuchung hier der umgekehrte Weg von dem einzuschlagen, welchen der Künstler gegangen: er ging von dem Hauptmotiv aus und gestaltete darnach die Nebenmotive; wir gehen von diesen aus und erkennen aus ihuen jenes.

Das Hauptmotiv konnte von Anfang an der Art nach verschieden sein. Entweder konnte es in der Absicht des Künstlers liegen, eine Persönlichkeit ihrem Charakter, ihrem Wesen nach darzustellen. Da mußte es ihm darauf ankommen, solche Nebenmotive zu wählen, welche zu der Erkenntniß des Charakters, des Wesens der Persönlichkeit hinführten. Diese Nebenmotive konnten äußerlicher Natur sein, wie Symbole; sie konnten aber auch mehr innerlicher Art sein, indem sie eine Bewegung, eine Handlung darstellten, welche der Persön­lichkeit so eigenthümlich war, daß sie sicher an ihr erkannt werden konnte. Diese Bewegung diente jedoch nnr als Mittel, um das Wesen zu charakteristren, war aber nicht der Gegenstand der Darstellung, das Hauptmotiv. Sie mußte dem­gemäß so dargestellt werden, daß man sie leicht als eine nicht in einem bestimmten Zeitmoment, sondern als gleichsam außer der Zeit geschehend, nicht als diese einzelne Handlung, sondern als eine solche allgemein charakterisirende, sich oft, ja vielleicht immer gleichartig wiederholende Hcmdluug vorstellen konnte. Wenig­stens mußte sich die Persönlichkeit dauernd in dieser Bewegung, die ja ihr Wesen erkennen lehren sollte, denken lassen. Die Bewegung konnte also keine solche sein, in welcher sich der Körper thatsächlich nur einen Augenblick, auf dein Uebergange von einem Zustande in einen andern, auf dem Wege einer eben