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Betrachtung. Sie werden in der Erinnerung des Volkes lebendig wieder aufgetaucht sein, wenn es heilige Gestalten auf Thierköpfen stehend, Männer von Löwen verfolgt oder Löwen mit der Beute im Rachen auf Bildern erblickte. Auch zahlreiche Heiligenlegenden sind dem Lxseuwra «zcelssias einverleibt; sie können, wie Springer sagt, geradezu als Textbuch für legendarische Darstellungen iu der Kunst verwendet werden, und hier hätten wir eine wichtige Ergänzung zu den von Schultz gegebenen Nachweisen. Aber auch über die Hierarchie des Himmels, über die Ordnung, welche in der kaum übersehbaren Fülle der himmlischen Heerschaaren waltet, werden wir belehrt. Am Feste „Allerheiligen", dem dazu passendsten Tage, erhebt sich Honorius gleichsam zu eiuer Vision und läßt die ganze euria eosli vor unsern Blicken vorüberziehen. Dem „Allerheiligsten" geht Maria zur Seite, dann folgen neun Engelschöre, von drei Erzengeln geführt, die zwölf Patriarchen des alten Bundes, denen sich die vier großen und die zwölf kleinen Propheten anschließen. Der Täufer leitet zur Gruppe der Apostel über. Dann kommen die Märtyrer, von denen die vornehmsten mit Namen angeführt werden, dann die Kirchenväter, die Bekenner, die heiligen Mönche, Einsiedler, Jungfrauen und Büßer. Kein Wunder, daß das Volksgemüth dann an der überlieferten Ordnung festhielt und sie bei jeder Gelegenheit, also auch in der bildenden Kunst, und zwar selbst bis in die Zeit der van Eyck und Albrecht Dürers herab, in dieser oder wenigstens einer ähnlichen Ordnung wiederholte.
Die Eindrücke aber, die das Volk aus der Predigt erhielt, wurden ergänzt und verstärkt dadurch, daß die Hymnen und Sequenzen, die an den Festtagen gesungen wurden, regelmäßig den gleichen Gedankengang verfolgten wie die Festpredigt und die dort angeschlagene Stimmung festhielten. In schlagender Weise tritt dies z. B. in den Hymnen am Allerheiligenfeste zu Tage. Aber auch an allen andern hohen Festen ergänzen sich auf dieselbe Weise Predigt und Gesang, sie erzählen dasselbe Ereigniß und regen die gleichen Gedanken und Empfindungen an. Auch der altchristliche Hymnus und die mittelalterliche Sequenz ergehWch mit Vorliebe in Parallelen und Praefigurationen und entlehnt die Beispiele für die Kämpfe und Verfolgungen der gläubigen Seele aus der Thierwelt.
Als eine glänzende Probe für die Wichtigkeit und — die Richtigkeit der neu gewonnenen Einsicht stellt Springer an den Schluß seiner Untersuchungen eine neue Interpretation eines der herrlichsten Werke romanischer Kunst: des Skulpturenschmuckes der Goldnen Pforte am Dome zu Freiberg.
Die hervorragendsten Werke der romanischen Skulptur in Deutschland sind bekanntlich auf sächsischem Boden zu suchen: es sind die Kanzelbühne und der Lettner mit der Kreuzigungsgruppe in der Kirche zu Wechselburg und