Lduard WöriKe.
Geräuschlos, wie es seine eigene Weise war, ist vor Jahresfrist eine Sammlung von Mörikes Schriften ausgegangen.*) Im größeren Publikum fast unbekannt, wird der Dichter, dessen Lebensertrag in diesen vier Bändchen vor uns liegt, um so eifriger von einer kleinen „Gemeinde" verehrt. Dies Verhältniß kann nur schädlich sein. Während anf der einen Seite auch der Hochgebildete das Recht hat, den Dichter nicht zu keimen, geht auf der andern dem Konventikel nnr zu leicht der Maßstab für seinen Heiligen verloren. Und gewinnt etwa der Dichter dabei? Es hat Mörike tief geschmerzt, als ihm einer unserer gelesensten Literarhistoriker seine „Idylle vom Bodensee" zerfetzte, wie jener Altfuchs bei Goethe dem Knaben sein Täubchen zerrupft, weit ärger aber war es ihm, daß nun ein wohlmeinender Retter ihn „über den Uhland" stellen wollte. Indessen, schädlich oder nicht, ein Verhältniß, das so lange konstant bleiben konnte, kann nicht ohne Grund sein. Und zwar hat es ohne Zweifel den doppelten Grund, daß Mörike ein echter Dichter, und daß er ein im höchsten Grade individueller Dichter ist. Wie es aber nicht das Erste allein ist, was die „Gemeinde" an ihn sesselt, so ist es leider nicht das Andere allein, was die Menge von ihm fernhält. Wer einem Dichter, zumal einem so individuellen, gerecht werden will, muß sich ihm hingeben, muß lernen ihm nachzuempfinden. „Von Meistern lernen wir immer und in allerlei Weise. Zunächst natürlich von ihren Vorzügen, dann noch von ihren Mängeln. Besonders lehrreich aber ist, was uns erst als Mangel erschienen war, als Vorzug erkennen lernen." So schrieb auf seinem letzten Krankenbette David Strauß, und die Betrachtung, die er mit diesen Worten einleitete, galt Mörike.^) Mehr als 25 Jahre früher schon hatte er Mörikes geistige Physiognomie mit wenigen
Ed. Mörikes Gesammelte Schriften. 4 Bde. Stuttgart, Göschen, 1378. 1. Bd. Gedichte und Idylle vom Bvdensec, 2. Bd. Erzählungen. 3. und 4. Bd. Maler Nolten.
**) Vgl. die wcrthvvllcn Mittheilungen über Mvrike von I. E. Günthert in Bir- lingers Alemannia 3, S. 193 ff.
Grenzboten IV. 1879. 23