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denten nicht nach dem Korps, sondern nach den hervorragenden Eigenschaften einer Persönlichkeit für diesen Posten.
Im neuen Abgeordnetenhanse gibt es drei konservative Fraktionen; vereinigen sie sich, so bilden sie zusammen die stärkste Fraktion und können nach deutschem Herkommen den Präsidentensitz verlangen. Es ist nach langer Zeit das erste Mal, daß der Charakter eines deutschen Parlaments durch eine konservative (relative) Mehrheit bestimmt wird. Diese Mehrheit hat den dringendsten Anlaß zu zeigen, daß die Ueberlegeuheit politischer Reife über ihre Gegner uud Vorgänger auf ihrer Seite ist, indem sie sofort den deutschen Parlamentarismus von einer knabenhaften Sitte zu befreien das Beispiel gibt. Die vereinigte konservative Partei — wir wollen annehmen, daß wenigstens für eine bestimmte Klasse von Geschäften das regelmäßige Zusammenwirken der drei konservativen Fraktionen zu Stande kommt — muß bei der Präsidentenwahl ihr Augenmerk lediglich auf eine würdige, allgemein shmpathische und in der Technik des Präsidialgefchäftes bewährte Persönlichkeit richten. Die Persönlichkeit, mit der in diesen Eigenschaften Niemand konkurriren kann, ist gegeben, seit Herr v. Bennigsen die Wahl znm Abgeordneten angenommen hat. Herr v. Bennigsen ist der natürliche Präsident des neuen Abgeordnetenhauses. Wenn beim Abgange des Herrn v. Forckenveck die „National-Zeitung" sagte, die liberale Flagge fei vom Reichstage heruntergelassen, so entgegnen wir: über dem Parlamente soll keine Parteiflagge wehen. Herr v. Bennigsen, dnrch die Konservativen gewählt, würde nicht die liberale Flagge bedeuten, sondern die Flagge der Würde nnd des Vertrauens, das ein deutsches Parlament noch zu sich selbst hat, in seiner Mitte Männer zu haben, die, obwohl hervorragende Parteiglieder, doch die Pflicht der Unparteilichkeit zn üben verstehen, so daß ihnen das ganze Haus folgt. Man hat dieses Vertrauen ja immer an den Tag gelegt, indem dem Präsidenten von der Parteifarbe der Majorität allseitig gefolgt wurde. Nur bei der Wahl nimmt man die Miene an, als traue man nur der Rechtlichkeit eines eigenen Parteigenossen, oder, was noch schlimmer wäre, als glaube man von der Präsidialleitnng durch einen Parteigenossen Vortheile für die Partei zu gewinnen. Wenn Beides nicht der Fall, wenn die bei uns übliche Behandlung der Präsidentenwahl nur eine üble Angewohnheit des Universitätslebens ist, so mache man der schlechten Sitte ein Ende; man wähle den Präsidenten nach den Erfordernissen des Amtes und nicht nach den Ansprüchen der Fraktionen (Korps).
Nimmt Herr v. Bennigsen den Präsidentenstuhl ein, so mag über die beiden Vizepräsidenten die Vereinigung nach den alten Gesichtspunkten erfolgen; man mag einen Vertreter aus den vereinigten konservativen Fraktionen, einen zweiten aus dem Zentrum wählen. Die Nationalliberalen werden wohl nicht die Thorheit wiederholen, in die sie zur Blüthezeit des parlamentarischen Korpswesens einige Male verfielen, indem sie sagten: Einer unserer Fraktionsgenossen ist Vertrauensmann des ganzen Hauses; nun müssen wir nach unserer Stärke auch noch einen Fraktivnspräsidenten bekommen. Man traut kaum seiner Erinnerung. Zu solchem Unsinn führt das Korpswesen im Parlamente. Ziemt es sich, in die ernstesten Geschäfte, bei denen es sich um das allgemeine Wohl und die nationale Würde handelt, die an ihrem Orte ja recht netten Spielereien der Universitätsjugend hineinzutragen? >x
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthel Ä Hcrrmann in Leipzig-