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sein. Die Ruhe kehrt wieder, nicht etwa, wenn Alle zu demselben Ideale theoretisch bekehrt sind, sondern wenn ein praktisch förderlicher Zustand irgendwie sich wiederum herausgebildet hat. Der Streit der Ideale dauert dann noch sort, aber ohne Erschütterung, weil er die große Mehrheit in allen Volksklassen gleich giltig läßt.
Seit fünfzehn Jahren befindet sich Deutschland in einem ununterbrochenen wunderbaren Fortschritt, der von den Träumeu alter Sehnsucht eiuen nach dem andern verwirklicht. Je mehr wir vorwärts kommen, destomehr gewahren wir allerdings, wie groß die Strecke ist, die wir zurückzulegen haben, um zu einem relativ abgeschlossenen Zustande mit ruhigem Beharren zu gelangen. Aber in allen Theilen des Volkes ist das Vertrauen zu dem Manne, der es bisher auf diesem schwierigen Wege so meisterhaft und so schnell geführt hat, gewachsen, das Interesse an den Aerzten, die aus der Theorie heraus kuriren wollen, geschwunden. Als der Liberalismus aller Schattirungen zum ersten Male mit dem Fürsteu Bismarck seit 1866 sich überwarf, weil der Kanzler gegen die Theorie des Freihandels und gegen die Theorie des parlamentarischen Staates mit seinen neuerlichen Maßregeln sündigte, da hat das Volk, und zwar in allen Theilen Deutschlands, in der Mehrheit sich nicht auf die Seite des Liberalismus geschlagen. Dies und nichts anderes bedeuten auch jetzt die letzten preußischen Wahlen. Man hat konservative Männer in großer Zahl gewählt, damit sie dem Fürsten Bismarck folgen, aber nicht im geringsten zu dem Zwecke, daß sie ihre konservativen Doktrinen verwirklichen. Der Liberalismus der verschiedenen Schattirungen hat eine große Zahl seiner Sitze eingebüßt, weil man in ihm eine Opposition gegen den Fürsten Bismarck sah. Es hat dem Liberalismus nichts geholfen, daß er das Schreckbild der Reaktion in allen Farben an alle Wände malte. Das Volk lacht bei der Behauptung, daß Fürst Bismarck jetzt die Zustände wieder herstellen wolle, deren Zerstörung die Herkulesarbeit seiner bisherigen Laufbahn gewesen. Man sagt sich: So etwas erfinden Leute, die sich nicht mehr zn helfen wissen.
Freilich tritt jetzt die alte Wahrheit in ihrer Strenge hervor, daß die Benutzung des Sieges ebenso mühsam ist wie der Sieg. Die Wahlschlacht ist gewonnen. Zwar bilden 163 konservative Stimmen noch nicht die Majorität, aber zu ihnen treten 105 Nationalliberale, meistentheils vom rechten Flügel. Von ihnen genügen 50 bis 60 Stimmen, die Majorität zu bilden. Auch die 163 Konservativen sind zunächst eine Schaar, aber noch kein Heer; es kommt darauf an, die Schaar zu organisiren. Alles Weitere aber hängt davon ab, welche Stellung die Nationalliberalen einnehmen werden. Sie können alles wiedergewinnen, was sie hatten, und noch mehr. Sie haben nie allein die Majorität des Hauses gebildet und sind jetzt weiter als je von dem Besitze der Mcijo-