— 93 —
Me Information und die Mystik.
Das Verständniß der geschichtlichen Entwickelung des Christenthums ist an die richtige Auffassung der Beziehungen geknüpft, in welchen die allgemeinen formalen Faktoren desselben, der religiöse, der moralische und der soziale Faktor, im Verlauf der Zeiten, sowie in den einzelnen in sich abgeschlossenen Perioden gestanden haben und stehen. Denn wie zweifellos es auch ist, daß ihrer wesentlichen Anlage nach diese drei Faktoren zusammengehören und keiner ohne den andern sich ausbilden und erhalten kann, so ist es doch eine ebenso unbestreitbare Thatsache, daß dieselben eine relative Selbständigkeit gegen einander behaupten, in dem Grade, daß sie sogar in eine Spannung des gegenseitigen Verhältnisses treten können. Bald sehen wir das religiöse Element sich so einseitig entfalten, daß die Pflege des Moralischen dahinter zurückbleibt, bald wiederum dieses mit einer solchen Ausschließlichkeit sich zur Geltung bringen, daß jenes dabei verkümmert; bald sehen wir das religiös-sittliche Leben des Individuums so voll und ganz in die Bewegungen und Ordnungen der Gemeinschaft aufgehen, daß es seine Selbständigkeit einbüßt und auf die Ausgestaltung des eignen Werthes Verzicht leisten muß; bald endlich sehen wir dasselbe so durchdrungen und erfüllt vom Bewußtsein seiner Bedeutung, daß es geneigt ist, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren und seinem eignen Wege zu folgen.
Wie wenig nun auch diese allgemeinen formalen Gesichtspunkte ausreichen, um den großen geschichtlichen Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus zu begreifen, wie sehr es dazu auch der Ergänzung durch bestimmte materiale Kategorieen bedarf, so fällt doch auch fchon von jenen aus ein eigenthümliches Licht auf denselben.
Daß der soziale Faktor, die Kirche, eine hervorragendere Stellung im Katholizismus einnimmt, daß dagegen im Protestantismus der Subjektivität ein größerer Spielraum eingeräumt ist, darf als allgemein zugestanden gelten. Diese Thatsache ist aber bedeutungsvoll für die Gestalt, welche hier und dort das religiös-sittliche Leben empfängt, für die Färbung, die es hier und dort annimmt. Denn es liegt anf der Hand, daß die Steigerung der Ansprüche der Kirche, die Hintansetzung des individuellen gegenüber dem sozialen Faktor, eine mehr oder weniger gesetzliche Prägung des religiös-sittlichen Elements zur Folge haben muß. Kann doch eine Gemeinschaft als solche nur in feststehenden, sichtbaren, äußeren Vollziehungen ihr inneres Sein auswirken. Und wie sehr sie es anch wünschen mag, daß ihre Angehörigen diese Handlungen geistig be-