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es ist immer noch zu verwundern, wieviel Eifer und Arbeit die deutsche Gewissenhaftigkeit bei dieser alljährlichen Aufgabe, deren Lohn in geringem Verhältniß zu den Mühen steht, aufbringt. Die Liberalen sagen freilich wieder: Ja, warum steht der Lohn in so geringem Verhältniß zur Mühe? weil die Parlamente nichts zu sagen haben. Der Liberalismus wird sich entsetzen vor dem Paradoxon: Wenn die Parlamente Alles zu sagen hätten, hätten sie gar nichts zu sagen. Darum nämlich, weil den allmächtigen Parlamenten die Wähler Alles vorschreiben würden und bei den immerwährenden Wahlen auch Alles vorschreiben könnten. So wären wir wieder bei der reinen Demokratie angelangt. Aber da ist schon wieder die politische Metaphysik. Wir müssen nochmals einen Anlauf nehmen, von der allgemeinen Natnr unserer deutschen Wahlbewegungen hinweg auf die gegenwärtige Wahlbewegung zn kommen.
Der eigenthümliche Charakterzug der diesmaligen Wahlbewegung ist allseitige Verdrießlichkeit, die zu dem immerhin entwickelten lebhaften Eifer im seltsamen Gegensatze steht. Verdrießlich sind vor allen und weitaus am meisten die Nationalliberalen. Verdrießlich ist trotz aller erheuchelten Siegesgewißheit der Fortschritt. Verdrießlich ist trotz aller stolzen Hoffnungen das Zentrum. Verdrießlich sind, obwohl sie es am wenigsten merken lassen und auch am wenigsten Grund haben, die Konservativen. Warum ist alle Welt so verdrießlich? Weil jede Fraktion dem Kanzler grollt, daß er sie nicht zur mächtigen und herrschenden macht, indem er ihren Grundsätzen sich anschließt, ihre Rathschläge befolgt und mit gewohntem Erfolg zum Siege führt. Was dem Manne nicht alles zugemuthet wird! Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert. Aber woher kommt es denn, daß diesmal so viel unvereinbare Hoffnungen gehegt werden, die sich gleichwohl auf eine Enttäuschung vorbereiten, woraus eben die allgemeine Verdrießlichkeit entsteht? Ehe wir antworten, müssen wir die Nationalliberalen von diesem Bilde ausnehmen, denn diese hoffen und fürchten nicht, vielmehr, sie sind bereits enttäuscht, gekränkt, fühlen sich mißhandelt, trauern und schmollen. Von ihnen darf man nicht sagen, sie hoffen und fürchten, sondern: sie sind dabei, den Kelch der Resignation zu leeren, aber allerdings mit der Hoffnung, auf dem Grunde irgend eine Perle zu finden.
Mit dieser getreuen Schilderung haben wir so ziemlich unsere Antwort gefunden. Sämmtliche Fraktionen, mit Ausnahme der Nationalliberalen, hoffe», aber ohne rechte Zuversicht, und sind ärgerlich, daß ihnen eine Hoffnung erregt worden, zu der sie selbst kein rechtes Herz fassen können. Die Hoffnung aber ist erregt worden durch den Zwiespalt des Kanzlers mit den Nationalliberalen, der wiederum diesen das Gefühl bitterer Kränkung bereitet.
Dieser Zwiespalt aber, worin hat er seinen Grund? Etwa in der Laune