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Der Rücktritt Andrassy's.
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Die Hauptfrage für uns Deutsche vor diesem Ereigniß, die, welche uns am unmittelbarsten berührt, ist mit dem Vorstehenden nur gestreift, nicht beant­wortet. Sie lautet: Wird die Politik, welche Andrassy dem deutschen Reiche gegenüber verkörperte, nach seinem Rücktritte beibehalten, modifizirt oder ganz aufgegeben werden? Schon vor Wiederaufrichtung dieses Reiches, während des Krieges mit Frankreich, ließ Graf Bismarck sich die Anbahnung guter Beziehungen zu Oesterreich-Ungarn angelegen sein, und zwar trug er dabei nicht blos der damaligen Lage der Dinge Rechnung, sondern es war ein Theil seines ganzen Systems, und die Annäherungsversuche waren von ihm durchaus aufrichtig gemeint. Graf Beust wirkte dagegen, Andrassy, zu dieser Zeit noch ungarischer Ministerpräsident, war dafür. Sein Verdienst ist es zum guten Theil, daß Oesterreich-Ungarn damals nicht an die Seite Frankreichs trat, und nachdem er an die Stelle Beust's gelangt, erwies er sich als der zuver­lässigste Bundesgenosse der Bismarck'schen Politik in auswärtigen Angelegen­heiten. Niemals sind die Beziehungen zwischen Wien und Berlin so freund­schaftlicher Art und so frei von allem Rückhalt und allen Hintergedanken gewesen als in der Zeit von seinem Amtsantritt bis heute. Es sieht wie ein Zufall aus, mag aber immerhin als ein Symptom gelten, daß noch kein Minister des Auswärtigen in Oesterreich so oft wie Graf Andrassy in Berlin gewesen ist. Wir sahen ihn hier bei der Dreikaiser-Zusammenkunft im Sep­tember 1872 an der Seite seines Souveräns erscheinen. Er kam im Jahre 1876 abermals nach der deutschen Kaiserstadt, und zwar zu den wichtigen Konfe­renzen , welche das bekannteMemorandum" in der türkischen Frage zur Folge hatten. Er verweilte im vorigen Jahre vier volle Wochen in Berlin als Theilnehmer an jenem Kongresse, welcher diese Frage im Interesse von ganz Europa regelte, und dessen Zusammentritt in Berlin, unter den Augen des Mittelpunktes Neudeutschlands und unter der Leitung von dessen Schöpfer, im wesentlichen sein Werk war. Er vertraute dem Geschicke und dem Billigkeits­sinne des Vermittlers der streitenden Mächte und Bestrebungen, und wie er sich damit nicht täuschte, so hat er auch die Erwartungen, die man in Berlin auf ihn setzte, nicht getäuscht. Er ist in der Ausführung des dem Hause Oesterreich in Bezug auf den Nordwesten der Türkei von dem Kongresse er­theilten Auftrags nicht weiter gegangen, als derselbe reichte, und als es das Interesse des von ihm vertretenen Staates und der Wunsch nach Erhaltung des Weltfriedens unbedingt erforderten. Kurz, Graf Andrassy hat in Verbin­dung mit dem deutschen Reichskanzler und als allezeit zuverlässiger Mitarbeiter desselben den alten Gedanken verwirklicht, der schon vor 1866 den echten deut­schen Patrioten als Ziel und alleiniges Heil vorschwebte: Keine dauernde Bundesgenossenschaft zwischen Deutschland und Oesterreich, aber feste Freund- Grenzboten IN. 1879. 65