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Die Statistik der Verbrechen und der freie Wille. I.
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gesittete Welt Europa's erschüttert und das öffentliche Denken angeregt, nach den Ursachen dieser Erscheinung zu forschen. Dieselbe steht aber nicht allein da. Man nehme die täglichen Lokalnachrichten unserer Zeitungen zur Hand: die Selbstmorde, die Verbrechen, namentlich die gewaltthätigen, starren uns in erschreckender Anzahl entgegen. Und doch die Erfahrung der Vergangenheit bürgt uns dafür die Kurve der Verbrechen mag in der Kriminalstatistik unserer Tage noch so hoch steigen: sobald wir einen größeren Zeitraum, ein größeres Land betrachten, wird sich die Prozentzahl der Verbrechen in einem bestimmten Lande, unter einer bestimmten Bevölkernngszcihl ziemlich gleich bleiben. Das Gesetz der großen Zahlen erzählt uns hier merkwürdige Dinge. Wie roh oder gesittet, wie arm oder reich, wie gebildet oder ungebildet die Bevölkerung eines bestimmten Landes sein mag, bei einer großen Zahl von Beobachtungen lehrt nns die Statistik, daß im Laufe eines Jahres eine ganz bestimmte Anzahl von Verbrechen, von den leichtesten Diebstählen und Betrü­gereien bis zu den Selbstmorden und Morden begangen werden. Wir können die Zahl mit ziemlicher Sicherheit auch für die Zukunft angeben, wir können sagen, wie sie sich auf die verschiedenen Lebensalter, die verschiedenen Ge­schlechter, die verschiedenen Lebensumstände und Bildungsgrade, die verschie­denen Bezirke eines Gebietes, die verschiedenen Monate des Jahres vertheilen werden, wie viele Verbrechen bestraft, wie viele nnentdeckt und unbestraft bleiben werden.

Quetelet hat dieses Gesetz' der gleichen Zahl der Erscheinungen in einer bestimmten Bevölkerung nicht nur für die physischen, sondern auch sür die geistigen und sittlichen Eigenschaften und Thätigkeiten des Menschen nachgewiesen. Das Bewußtsein sittlicher Freiheit, daß unsere eigene innere Erfahrung be­zeugt, empört sich vergebens gegen dies unbeugsame Schicksal, gegen das Vor­handensein von bestimmten Gesetzen der Wiederkehr und der Zahl der Ver­brechen; es hilft ihm auch nichts, die Erscheinungen in die Kreise der niederen Klassen, in die Sphären der Rohheit und des mangelnden Bewußtseins zu verweisen und aus diese sittlichen Defekte zu exemplisiziren; wie wir unter den Königsmördern gebildete Männer, wie Orsini, Nobiling u. a. finden, so auch unter den anderen Verbrechern; Cattaneo bemerkt mit Recht,daß die Ver­brechen nicht allein Ausbrüche träger und verirrter Naturen sind, sondern häufiger in gewissen Zeiten und an gewissen Orten aus dem inneren Zustande der Gesellschaft Nahrung schöpfen". Es gehören hierher gewisse psychologi­schen Massenwirkungen, wie wir sie nach großen Kriegen beobachten. Wie diese einerseits den Muth und das Bewußtsein männlicher Kraft und Würde steigern, so lockern sie auf der anderen Seite auch die Achtung für das mensch­liche Leben, die Achtung für das Eigenthum und mindern die Kraft zu dulden,