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Politische Briefe. V. : Die Würde eines deutschen Parlaments.
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Hier ist es nöthig, nochmals auf die Frage einzugehen, vb selbst gegen die ärgsten Ausschreitungen die gelinden moralischen Strafen, Ordnungsruf uud Wortentziehung, in deutschen Parlamenten vielleicht ausreichend sind. Wie be­merkt, hatte Herr LaSker behauptet, so arge Ausschreitungen, die an eine schärfere Strafe denken lassen, seien überhaupt nicht vorgekommen. Der Falsch­heit dieser Behauptung wurde er, wie ebenfalls bemerkt, von seinen Entgegnen: gründlich überführt. Aber andere Stimmen haben eine andere Behauptung aufgestellt, nämlich die: wie arg auch hin und wieder ein einzelner Redner sich vergehen und selbst sreveln möge, die Ausschreitung falle auf deu Redner zurück und könne die Würde des Reichstages nicht antasten. Wenn dieses Argument richtig wäre, so müßten freilich alle Verbal- und Realinjurien freigegeben werden, alle darauf gesetzten Strafen und selbst der strafrechtliche Begriff dieser Ver­gehen müßte verschwinden. Denn es ist ja ganz richtig: jeder rohe oder hämische Angriff in Worten oder Werken fällt auf den Beleidiger zurück, so lauge die guten Sitten in der Gesellschaft die Oberhand haben. Gleichwohl läßt die Strafgesetzgebung von der Bestrafung der Injurien sich nicht abhalten, und mit Recht. Wenn sie es thäte, würde die Gesellschaft ans edlen Duldern und rohen Frevlern bestehen, ein Zustand, welcher bis auf einenl gewissen Grad der Moral, aber niemals den sozialen Zwecken zu gute kommen könnte. Auch das deutsche Parlament darf gegen seine Würde, in welcher die Ehre der Nation verkörpert ist, nicht ungestraft freveln lassen. Um sich der Anerkennung dieser Nothwendigkeit zu entziehen, hat man noch zwei Argumente übrig. Man kommt erstlich immer wieder darauf zurück, daß die moralische Ahndung aus­reiche. Seit dem 17. Mürz, wo der Präsident v. Forkenbeck den Abgeordneten Liebknecht erst mit einer von demonstrativem Beifall des ganzen Hauses be­gleiteten Bemerkung unterbrach, dann durch die bloße Ankündigung, über die Wortentziehung abstimmen zu lassen, den Redner von der Tribüne verscheuchte, beruft man sich mit Genugthuung auf diesen Vorgang für die genügende Wirkung der mit gehörigem Nachdruck gehcmdhabten disziplinarischen Mittel. Man ver­gißt bei dieser Berufung Verschiedenes. Man vergißt, daß der zurechtgewiesene Redner die eimnüthige Stimme des Hauses gegen sich hatte, uud daß in der Bekundung dieser Einmüthigkeit die Hauptwirkung der Zurechtweisung lag. Wie wäre der Eindruck der Szene gewesen, wenn 20 30 Sozialdemokraten ihren Genossen lärmend unterstützt hätten? Man vergißt ferner, daß Herr Liebknecht zwar durchaus kein Neuling ist in der Kunst, den Reichstag heraus­zufordern, aber allerdings ein Neuling in der Gewohnheit, einer scharfen Ahndung ZU trotzen. Zu dieser Uebung hat der Reichstag bisher weder Herrn Liebknecht noch anderen ausschreitenden Rednern die hinreichende Gelegenheit geboten. Dnrch die schnelle Unterwerfung des Herrn Liebknecht ist diesmal