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von Berlin fort. Um dies gleich zu bemerken: es ist eine juristisch unbegreifliche Verdrehung, die sich Herr Hänel beikommen ließ mit der Behauptung: wenn die Herren Fritsche und Hasselmann blos auf Grund des Reichstagsbeschlusses in Berlin verbleiben könnten, so machten sie sich eines Vergehens schuldig, für welches sie nach beendigter Session zur Strafe gezogen werden müßten. Wenn das richtig wäre, so müßten alle durch Geltendmachung des Reichstagsprivilegiums von Untersuchungshaft oder Zivilhaft Befreiten behandelt werden, als ob sie der Haft entsprungen wären. Der klare Sinn der Verfassung — nicht nur derjenigen des deutschen Reiches, sondern aller Länder — ist dahin zu verstehen und bis jetzt überall verstanden worden, daß das von berechtigter Seite geltend gemachte Privilegium alle Verantwortung sür den Gebrauch des Privilegiums aufhebt. Man sollte denken, es wäre überflüssig, so etwas zu sagen; aber was einem Juristen wie Herrn Hänel entgeht, was ein noch berühinterer Jurist wie Herr Gneist, Herrn Hänel nachsprechend, übersieht, ja das mnß man wohl sagen.
Was hätte denn eigentlich nach der Meinung derer, von denen das Geschrei über Privilegienbruch ausging, die Reichsregierung thun sollen? Matt sagt: die Polizei von Berlin muß sich beugen vor dem Beruf jedes Reichstagsmitgliedes; was die Polizei nicht wußte, mußte der Staatsanwalt wissen, was dieser nicht, der Justiz minister, was dieser nicht, der Reichskanzler. Also der Beruf des Reichstagsmitgliedes beseitigt alle rechtlichen Hindernisse! Der Artikel 31 der Reichsverfassung sagt doch aber ausdrücklich, daß die rechtlichen Hindernisse beseitigt werden nicht durch den bloßen Stand des Reichstagsmitgliedes, sondern nur durch das von der Körperschaft des Reichstags für das oder jenes Mitglied ausdrücklich beanspruchte Privilegium. Und selbst das Privilegium, welches der Reichstag geltend machen kann, beschränkt sich auf Rechtshindernisse aus eingeleiteten oder auf Grund neuer Vergehen einzuleitenden Untersuchungen, es umfaßt aber nicht die Hindernisse aus bereits rechtskräftigen Verurteilungen. Wie soll denn also der Polizeipräsident und alle folgenden Instanzen dazu kommen, das Gesetz außer Kraft zu,fetzen, welches nur der Reichstag außer Kraft zu setzen befugt ist, wenn er dafür einen besonderen Grund zu haben glaubt? Ist es nicht eine völlig sinnlose Behauptung, daß auf diese Weise der Bestand des Reichstags von der Willkür der Berliner Polizei abhängig werde? Wenn diese Behörde wirklich ein unbeschränktes Recht der Ausweisung gegenüber den Personen üben könnte oder wollte, so fände sie doch immer noch an der Pflicht, die Genehmigung des Reichstags für die Ausweisung von Reichstagsmitgliedern einzuholen, eine un- übersteigliche Schranke. Der Zweck des Sozialistengesetzes war, einen Theil der Staatsbürger, der keine bestehende Rechtsschranke mehr anerkennen will/ unter gewisse Ausnahmebeschränkungen hinsichtlich des Gebrauchs der staatsbürgerlichen Rechte zu stellen. Das Sozialistengesetz hat unter Anderem die Möglichkeit geschaffen, die revolutionären Sozialisten vom Reichstage auszuschließen. Natürlich nur, wenn der Reichstag selbst diese Ausschließung w"l. Niemand bestreitet ihm das Recht, das sozialistische Element in seiner Mitte zu hegen. Nichts ist ferner unzutreffender, als von einer Niederlage der Regierung zu sprechen, die sie durch die vom Reichstage versagte Genehmigung ,^ jenen strafrechtlichen Schritten erfahren. Die Regierung hat die strafrechtliche Verfolgung nicht einmal befürwortet, sondern lediglich als einen im Laufe des Gesetzes liegenden Akt, welcher die Genehmigung des Reichstags erfordert, zur Kenntniß des Letzteren gebracht. Um die Aufregung zu verstehen, welche em