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schaumig, auf die Einbildungskraft, auf das Gefühl, auf das Gemüth, auf die Individualität hin, auf das Recht und den Werth der menschlichen Affekte, auf die Harmonie von Pflichtgefühl und Neigung, ja auf das Recht der durch den Schönheitssinn gezügelten Sinnlichkeit. In der Natur herrscht Leben, nicht todte Abstraktion; sie ist ein Symbol des Unendlichen. In ihr herrscht Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, sinnliche Formenschönheit und neben dem Erhabenen das Naive und Instinktive. In dem höchsten Gebilde der Natur stellt sich aber das Naturartige dar als das rein Menschliche, welches sich weit mehr, als in kunstvoller Reflexion, in der Phantasie und im Gemüthe kundgibt. Nur im Gemüthe mit seinen Affekten erscheint der ganze Mensch, der volle und lebendige Mensch. Das Naturartige in diesem Sinne bildete nun die Grundlage dessen, was man damals als das Geniale bezeichnete. Lavater*) definirte es als das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigenthümliche, Unnachahmliche, Göttliche, Jnspirationsmäßige; es sei zugleich das Allererkennbarste und das Unbeschreiblichste, fühlbar, wo es sei, und unaussprechlich, wie die Liebe; es sei solches, das wohl geahnt, aber nicht begehrt werden könne; das, was gegeben werde nicht von Menschen, sondern von Gott oder vom Satan. Spuren des Kultus der Genialität kann man schon bei Klopstock nicht verkennen, noch weniger bei Lessing; völlig ausgebildet aber erscheint die neue Richtung bei dem schöpferische» Goethe und bei dem empfänglichen Herder. Für Herder ist der lebendige Mensch das Thema aller seiner Arbeiten. In alles Menschliche^), in alle Fähigkeiten der menschlichen Seele, in alle Nationalitäten, Zeiten und Individuen 'weiß er sich hinein zu empfinden; für alle Geistesschöpfungen, alle Denk-, Empfindnugs- und Ausdrucksweisen, für Sitte und Religion, für Volkslied und Sage, für Sprache und Dichtung bringt er ein offenes und tiefes Verständniß mit: nur diejenige Poesie hielt er für rechte Poesie, die aus Instinkten und Inspirationen, nicht aus Regeln entsprungen sei, und die Aesthetik war ihm Naturlehre. Wie konnte es da fehlen, einmal, daß es diesen Männern gelang, die Zeitgenossen umzustimmen, der ganzen Epoche ein anderes Antlitz zu geben, als welches sie aus der Periode der Aufklärung mitgebracht hatte? Zum Andern, daß der neue Standpunkt der unmittelbaren Genialität und der genialen Unmittelbarkeit auch auf das religiöse Leben und auf die Schätzung desselben zurückwirkte? Denn, wenn in irgend einem, so haben in dem religiösen Element die gemüthvolle Unmittelbarkeit, das Offenbarungs- und Jnspiratious-
*) Physiognomischc Fragmente, vierter Versuch (Leipzig u, Wintcrthnr 1778), S- 80 f., S4.
Vgl. Haym, a. a. O. und K. Weinhold, Die deutsche geistige Bewegung vor hundert Jahren, Kiel 1S73, S. 7 f.