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das organische Verhältniß beider theoretisch enthüllen; aber aus einem großen Ganzen geschichtlicher Erscheinungen spricht immerhin das Wesen der Sache zn uns, und es gibt kein besseres Mittel, sich zur Erkenntniß des Wesens eines Verhältnisses hinleiten zu lassen, als die Beobachtung der in der geschichtlichen Entwickelung vorliegenden Phasen des Verhältnisses.
Fassen wir den Zeitraum in's Auge, der mit dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts beginnt und mit dem Eintritt des 19. Jahrhunderts schließt, so hebeu sich hinsichtlich der Literatur überhaupt und hinsichtlich der in Rede stehenden besonderen Frage vier Perioden von einander ab, wenn sie sich auch uicht alle zeitlich präzis von einander sondern lassen, da nach dem Emporkommen ueuer Richtungen die alten mehrfach noch nachwirken.
In der ersten Periode, die gewöhnlich nach den beiden schlesischen Schulen beuauut wird, finden wir ein lebendiges Ineinandergreifen von Poesie und Religion, in der vierten und letzten, der der Romantik, sogar ein fast völliges Verschwinden der Grenzen beider, ein Verhältniß, welches einer förmlichen Verschmelzung mindestens sehr nahe kommt; in der zweiten Periode, d. h. im Zeitalter der Aufklärung, erscheinen uns freilich beide in einem gespannten Verhältniß; aber gerade dadurch fällt neues Licht auf die wahre Natur des wesentlichen Verhältnisses, wem: wir die Zeitform in's Auge fassen, in welcher die Poetik in dieser Epoche erscheint. In der dritten Periode endlich, in der Periode der klassischen Geuialität, also iu der Blüthezeit Herder's, Goethe's uud Schiller's, einer Periode, von der sich allerdings die der Romantik abhebt, begegnen uns dennoch die Vorboten dieser letzteren; sie bildet das Mittelglied, welches das Umschlagen der Aufklärung in die Romantik vorbereitet und erklärt.
Anch im 17. Jahrhundert regen sich — wer möchte es leugnen? — fruchtbare Keime auf dem Boden der deutschen Kulturentwickelnng; wenigstens Erscheinungen, wie die eines Leibnitz oder die eines Otto v. Guericke, des Erfinders der Luftpumpe, sind immerhin Lichtgestalten. Im Allgemeinen aber bietet uns in Deutschland dieses Jahrhundert ein trauriges Bild des Verfalls: das politische und nationale Leben zeigt uns das deutsche Volk in der elendesten Knechtsgestalt, in der äußersten Erniedrigung. Auf dem Gebiete der Kunst verräth namentlich die Architektur auf deutschem Boden einen Rückschritt des Geschmacks. Wie stand es aber mit der Dichtkunst und wie mit der Religion und Theologie? Was die letztere betrifft, so fehlt es zwar heutzutage in theologischen Kreisen nicht ganz an Rettungsversuchen, welche darauf gerichtet sind, dem 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der haarspaltenden, schnlmäßigen Systemati- sirung, des streng rechtgläubigen Dogmas, in dem Urtheil der Zeitgenossen wenigstens einige Strahlen des Glanzes zurückzuerobern, in welchem die Theologie jener Zeit sich selbst erblickte, deu sie aber im 18. Jahrhundert in den