— 293 —
war. Andererseits mußten allerdings die deutschen Edelleute und Städtepatrizier alte wohlerworbene uud theuer bezahlte Vorrechte und Gerechtsame aufgeben, weil die russische Regierung sie nicht länger besser als die Russen selbst gestellt wissen wollte. Der Unwille der Betroffenen ist sehr begreiflich und nicht weniger berechtigt, als seinerzeit der des preußischen Adels, als man ihm 1808 seine Vorrechte ohne jede Entschädigung nahm. Die Klagen hatten dort eben so wenig wie hier Erfolg. Der Zeitgeist schreitet über dergleichen hinweg.
Natürlich zerfallen die einzelnen Gouvernements wieder in Unterabtheilungen (v/issiä^), welche, wenn auch meist von größerem Umfange, etwa unseren Kreisen entsprechen. Dem System straffer Zentralisation entsprechend, existirt unser Landrath, der doch wenigstens selbständig sein kann, wenn er will, in Rußland nicht; an seiner Stelle waltet der Jspravnik, was eigentlich schlechtweg jeden Regiernngsbecnnten, hier aber eine Stellung bezeichnet, die mit unserem verflossenen „gestrengen Herrn Amtmann" die meiste Ähnlichkeit hat. Der Schwerpunkt seiner Thätigkeit ruht in der lokalen Polizeiverwaltung.
An der Spitze der einzelnen Gouvernements steht ein Gonverneur, mit einem Vizegouverneur und der oben beschriebenen Stufenleiter von Bnreaux und Komite's, den Petersburger Ministerialverhältnissen nachgebildet. Bis zu den Reformen, welche das Werk des Kaisers Alexander's II. sind, war die Stellung eines solchen Generalgouverneurs fast gleich der des Czaren selbst. Eine energische, begabte Natnr, und diese waren öfter vorhanden, als man glaubt, da diese Gouverneure meist aus den höchsten Militärs gewählt wurden, besaß eine fast unumschränkte Macht im Guten — wie im Bösen. Groß war die Versuchung, und im Hinblick darauf war der eigentliche Mißbrauch der Gewalt verhältnißmüßig selten gerade von Seiten dieser Männer. Wo aber nicht die höchste geistige Begabung des Gouverneurs diesen zum wirklichen Leiter der Geschäfte erhob, da war die Gefahr des Mißbrauchs von Seiten des zahllosen Beamtenheeres um so sicherer, als es an dem Material für einen gebildeten, intelligenten, mit Ehrgefühl erfüllten Beamtenstand absolut fehlte. Zahllose Schilderungen beweisen, wie selbst der einzelne Ehrenmann in das allgemeine Horn blasen mußte, wenn er uicht dem Terrorismus seiner Kollegen erliegen wollte. Weil eine jede unbefleckte, streng rechtliche Existenz eine fortdauernde Bedrohung gegen die ungeheuere Majorität derjenigen war, welche es mit den Gesetzen der Moral nicht so genau nahmen, so trat die schreckliche Konsequenz ein, daß auch der Ehrenhafteste, und sei es nur zum Schein, der allgemeinen Korruption huldigen mußte.
Es ist ein großes Verdienst des jetzigen Kaisers, an den Giftbaum der Vemntenkorruption, der das ganze Reich zu verderben drohte, die vernichtende Axt gelegt zu haben, wenn auch hier mehr, als irgendwo in der Welt, das
Gn'nzsww, I. >«79. 38